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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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hält. Sie war genauso wenig begeistert wie ich. Samhain ist fast so nervös wie Mama. Sie klammert sich an mir fest und will mich nicht gehen lassen.
    »Wir bleiben zusammen«, sagt sie und klingt ganz fiebrig. »Immer. Ich lasse dich nicht an diesem schrecklichen Ort allein. Oder nein, ich gehe an deiner Stelle und er wird mich mit sich nehmen, und dann hat der Spuk für immer ein Ende!«
    Ich höre mir ihr wirres Gestammel an, und sie erklärt mir, während die Tränen über ihr Gesicht laufen, dass sie eine alte Abschrift des Vertrages in der Bibliothek gefunden hat. Dass sie ihn studiert hat. Dass sie glaubt, dass der Bräutigam, dessen Namen niemand in diesem Haus laut auszusprechen wagt, etwas übersehen hat. Er darf nur die Novemberbraut heimführen, keine andere Tochter der Vandenbourghs. Wenn es uns gelänge, ihn zu täuschen, wenn er nicht bemerken würde, dass sie an meiner statt das Brautkleid trägt, dann wäre der Vertrag null und nichtig.
    »Und dann?«, fragte ich.
    »Er fährt zur Hölle, wo er hingehört«, sagte sie und klang ganz und gar fiebrig. Sie hielt meine Hand so fest, dass ich spürte, wie meine kleinen Knochen übereinanderschabten. Es tat weh. Aber Sam ließ nicht locker. »Er wird endlich das bekommen, was er verdient.« Ihre Augen glänzten wie helle Opale. »Das wäre es mir wert, selbst wenn ich dabei sterben sollte. November, so hör doch auf mich!«
    M ir schwirrt der Kopf. Ich will nicht, dass Sam sich an meiner Stelle opfert. Ich habe mich mein Leben lang darauf vorbereitet, die Braut zu sein. Ich opfere mich für das Wohl unserer Familie und der uns Anvertrauten. Die Menschen im Dorf. Unsere Bediensteten. Alle, die nach uns kommen.
    Es wäre falsch, wenn sie für mich ginge. Und überhaupt – wenn sie sich irrte? Dann wäre das alles umsonst und ich wäre am Leben und sie tot ... nein, das geht nicht. Das geht nicht!

28
    NOVEMBER
    November kniete auf dem schmutzigen Pflaster und starrte auf den bewusstlosen Jungen hinunter. Ihre Finger spielten unschlüssig mit ihrem Handy. Wen sollte sie anrufen? Sein Vater war nicht da, hatte er gemurmelt. Einen Krankenwagen? Er war deswegen ziemlich energisch geworden, sogar in seinem halbwegs weggetretenen Zustand. Wahrscheinlich wäre es trotzdem das Vernünftigste, den Notruf zu wählen.
    Sie ließ sich neben Adrian gegen die Hauswand sinken und blickte auf das Mobiltelefon. Was war da gerade passiert? Gribben hatte ihn provoziert, und zuerst hatte es so ausgesehen, als wollte Adrian ihn ignorieren und einfach weitergehen. Das wäre auch das Beste gewesen, denn Gribben war einen guten Kopf größer und deutlich kräftiger gebaut als der zierliche Adrian.
    November fasste unwillkürlich nach seiner Hand. Schlaff und kühl lag sie in ihrem Griff. Sie begann, die kalten Finger zu reiben, dachte weiter nach. Adrian hatte weitergehen wollen, aber dann, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, war er herumgefahren und Gribben an die Kehle gegangen. Sein Gesichtsaus d ruck hatte sie bis ins Mark erschreckt. Er hatte nicht wütend ausgesehen, ganz und gar nicht wie jemand, der ausrastet. Seine Miene war gelassen gewesen, beinahe amüsiert. Als hätte ihm jemand einen blöden Witz erzählt und er würde über den Erzähler und seine Dummheit lächeln. In seinen Augen hatte tief drinnen ein dunkelroter Funke geglüht, wie Lava unter der erstarrten Kruste eines Vulkans. Er hatte seine Finger in Gribbens Kehle gebohrt und angefangen, den Jungen zu würgen. Gribben hatte um sich geschlagen, sich gewehrt, aber er war unter dem unvermuteten Angriff zu Boden gegangen. Adrian hatte sich auf ihn gekniet, und dann hatte es eine Weile so ausgesehen, als könne er sich nicht recht entscheiden, ob er Gribbens Kehlkopf zerquetschen oder ihm lieber das Genick brechen wollte – immer noch mit diesem halben, ironischen Lächeln auf dem Gesicht.
    Das war der Moment gewesen, als sie glaubte, einen grünen Schimmer in seinen Haaren zu erkennen. Eine Reflexion der Neonbeleuchtung, ganz sicher. Das Sailors trug einen knallgrünen Schriftzug über der Tür.
    November drückte wahllos auf ihrem Handy herum. Sie belog sich gerade selbst. Das war kein Lichtreflex von irgendeinem Ladenschild gewesen. Adrians Haare hatten so grün geleuchtet wie die einer Comicfigur. Seine Hände hatten ausgesehen wie Klauen, mit schneeweißer Haut und langen grünen Nägeln. Sein Lächeln war aufgemalt gewesen, breit und blutig, seine gebleckten Zähne lang und gelb ...
    Sie

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