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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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ihr an, hörte ihren Worten an, dass sie log. Sie verschwieg mir etwas, das ihr offensichtlich schwer zu schaffen machte. Ich hielt ihre Hand fest, als sie sich wegdrehen wollte. »Nova«, sagte ich. »Ich bin dein Freund. Das bin ich doch, oder?«
    Sie blieb abgewandt stehen. Ich konnte nur die sanfte Linie ihrer Wange sehen, ihr helles Haar, den Hals, in dem ihr Puls pochte. »Ary«, sagte sie so leise, dass ich es kaum verstand, »es ist alles nicht so einfach.«
    Ich machte eine impulsive Bewegung, wollte sie umarmen und festhalten, aber sie machte sich los und ging weiter. »Komm schon«, rief sie, »ich muss nach Hause.«
    Wir gingen den gleichen Weg zurück, den ich gekommen war. Vor dem Sailors lungerte immer noch eine kleine Gruppe der Dorfjungen herum. Ein paar von ihnen waren ordentlich blau. Nova verzog angewiderte die Lippen. »Diese Arschlöcher«, hörte ich sie murmeln.
    Wir blieben auf der anderen Straßenseite, aber einer der Burschen sah uns und brüllte Novembers Namen. Sie hob das Kinn und ging etwas schneller weiter. Ein anderer kreischte wie ein Affe und lief im Zickzack über die Straße. »Sissy und Pussy«, gellte er. »Händchen in Händchen, wie niedlich! He, Nova, was treibt ihr beide miteinander? Was hat die kleine Schwuchtel denn so drauf?«
    »Halt dein dreckiges Maul, Oliver Gribben«, rief November. Sie klang gleichzeitig eiskalt und wütend, und wenn ich die s er Gribben gewesen wäre, hätte ich in diesem Moment den Schwanz eingezogen und wäre zu meinem Rudel zurückgerannt.
    Aber der Junge war durch das anfeuernde Gegröle seiner Freunde zu aufgeputscht. Er kam noch näher, schwang die Hüften wie ein Model auf dem Laufsteg und fuchtelte affektiert mit den Händen. Ich verdrehte die Augen. Das Theater kannte ich, es hatte auch auf meiner Schule genügend Idioten gegeben, die meinten, so etwas aufführen zu müssen, wenn sie mich sahen. Ich hatte gelernt, es zu ignorieren.
    November nicht. Sie blieb stehen, stemmte die Fäuste in die Hüften und fauchte: »Verpiss dich, Gribben!«
    »Oh, das ist aber nicht damenhaft«, flötete der Junge und klimperte mit den Wimpern. »Ganz und gar nicht damenhaft. Haben sie dir das in der Klapsmühle beigebracht?«
    Nova knurrte einen Fluch und zog an meinem Arm. »Komm, Adrian. Bring mich nach Hause.«
    »Ja, Adrian, bring deine verrückte Freundin nach Hause und vergiss die Zwangsjacke nicht«, äffte Gribben sie nach und kreischte dann wieder sein Affenlachen, das mir durch den Kopf schnitt wie ein Messer. Ich kniff die Lippen zusammen. In mir brodelte dunkelroter Zorn, der mir den Atem nahm. Ich holte tief Luft, drehte mich zu dem Kerl um und holte aus, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen.
    »Ary, nicht«, hörte ich Nova leise und scharf sagen. »Du lieferst ihm nur einen Grund ...«
    Ich höre ihre Worte, aber sie bilden nur ein bedeutungsloses Grundrauschen zu der Wut, die in meinem Kopf wummert. Blitze zucken durch mein Blickfeld. Rote, scharfzackige Blitze. D ann höre ich jemanden knurren wie einen riesigen, bösartigen Hund. Mein Blickfeld verengt sich, die Szenerie erscheint in groben, stark konturierten Schwarz-Weiß-Zeichnungen, in denen nur hier und da kleine Flecken in düsteren Farben glühen – ein tiefes Terra di Siena, ein schmerzhaftes Ultramarin, ein hässliches Titanorange, ein übelkeitserregendes Chromoxidgrün. Das Knurren des Hundes wird zu einem Grollen, einem kreischenden Fauchen. Jemand schreit, tief und hallend, der Schrei scheint aus einem Gewölbe tief unter der Erde zu kommen.
    Leuchtendes Blutrot. Spinnendürre Finger mit krallenden grünen Nägeln, die sich in eine Kehle graben. Strampelnde Beine, um sich schlagende Arme. Schreie. Jemand reißt an meiner Schulter, zerrt an meinem Arm. Schreit mich an.
    Eine federleichte Berührung, kühl und sacht, an meiner Wange. Eine leise, sanfte Stimme. »Adrian. Lass ihn los. Lass ihn los, du bringst ihn sonst um.«
    Langsam kehren die Farben zurück. Ich knie auf jemandem. Er wehrt sich nicht, seine Augen sind geschlossen. Ich krabble langsam rückwärts von ihm herunter. Was ist geschehen?
    November zerrte mich an meinem Arm auf die Füße. »Komm weg, ehe irgendwer die Polizei ruft.« Jemand steckte den Kopf aus der Tür des Pubs, sah die starr um den Liegenden herumstehenden Jungen, fragte: »Was ist los?«
    Ich ließ mich von November weiterziehen. »Sollten wir nicht dafür sorgen, dass ein Arzt kommt?« Ich konnte mich nicht erinnern. Was war geschehen? Hatte ich

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