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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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ihn so zugerichtet? Ich?
    »Sieh dich nicht um«, zischte November. »Geh ganz normal weiter. Nein, wir rufen niemanden. Was auch immer du mit i hm angestellt hast, Gribben hat es tausend Mal verdient. Er hat den armen Mann unten im alten Hafen zusammengetreten.« Sie warf mir einen Seitenblick zu, dessen Ausdruck ich nicht deuten konnte. »Du hast ausgesehen, als hättest du grüne Haare«, sagte sie und lachte so verlegen, als hätte sie einen dummen Witz gemacht.
    Wir bogen ohne uns abzusprechen in die nächste Querstraße ein. Ich bemerkte nicht, dass ich langsamer ging, bis ich das Zerren von Novembers Hand an meinem Arm spürte. »Geh weiter«, sagte sie. Ihr Gesicht war angespannt. »Du hast ihn ganz schön fertiggemacht. Hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
    Ich blieb stehen. Stützte die Hände auf die Knie, rang nach Luft. »Mir ist übel«, sagte ich. Mir war übel, ja, aber nicht so, dass ich mich übergeben musste. Mein Magen war okay, aber mein Kopf spielte verrückt.
    November, die schon weitergegangen war, kam zurück. »Hast du was abbekommen?« Ihre Stimme klang besorgt.
    Ich schüttelte den Kopf, wobei die Straße vor meinen Augen Tango tanzte. »Geht gleich wieder«, sagte ich. Das war gelogen. Gar nichts ging. Ich merkte, wie ich in die Hocke sank und mich gegen die Hausmauer lehnen musste, um nicht umzufallen.
    »Du siehst aus, als ob du gleich umkippst.« Die Sorge machte ihre Stimme schrill. »Ich rufe am besten deinen Vater an ...«
    »Toby ist nicht da«, brachte ich heraus. »Lass mich einfach einen Moment hier sitzen.«
    Sie kniete schon neben mir. Ihre Hand lag auf meiner Schulter, ihr Blick wanderte beunruhigt über mein Gesicht. »Soll ich einen Krankenwagen ...«
    »Nein!« Das kam lauter als beabsichtigt. Ich zwang mich zu e inem Lächeln. »Die können mir nicht helfen. Ich bin gleich wieder voll da. Ist nur ein Anfall.« Ich schloss die Augen und legte den Kopf zurück gegen die Mauer. Was hatte sie gesagt? Ich hätte grüne Haare gehabt? Wie verrückt war das denn?
    Die Welt schwamm davon wie ein kleiner silberner Fisch und ließ mich in einem endlosen dunklen Ozean allein zurück.

Novembers Tagebuch
    St. Irais, 17. August
    I ch habe dich so lange nicht mehr in der Hand gehabt, liebes Tagebuch. Ich sitze in meinem Zimmer, die Vorhänge gegen die Hitze und das gleißende Licht dicht geschlossen. Ich kann den Schweiß salzig auf meinen Lippen spüren und meine Haare liegen mir schwer und warm im Nacken, aber inwendig friere ich.
    Mama geht es schlecht, sehr schlecht. Der Doktor war mehrmals da, hat ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht, aber ich habe seine Miene gesehen, als er mit Papa unten in der Halle stand und sich verabschiedete. Er ist mit seinem Latein am Ende.
    Ich weiß, dass er Mama nicht helfen kann. Sie hat nichts, was ein Arzt mit seinen Tabletten und Spritzen heilen könnte. Es ist nicht ihr Körper, der krank ist, es ist ihre Seele.
    I ch bin zu Papa gegangen, dem im Moment lieber alle aus dem Weg gehen, und habe um ein Gespräch gebeten. Er war so überrascht. »November, mein Liebes«, hat er gesagt und sein Gesicht war ganz weich und voller Freude. Ich habe ihn umarmt und gedacht, dass er niemanden hat, an dem er sich festhalten kann. Er muss immer stark sein, der Hausherr, das Familienoberhaupt.
    Dann haben wir in der Bibliothek zusammen Tee getrunken und uns wie Erwachsene unterhalten. Ich habe ihm gesagt, dass er Mama fortschicken soll. Sie hat doch eine Cousine irgendwo in Wales. Das Haus tut ihr nicht gut.
    Nein, es ist natürlich nicht das Haus. Es ist dieses Jahr, das Jahr, in dem ich sechzehn werde. Das ist es, was sie so verrückt macht.
    Ich habe es gesagt, Papa ins Gesicht. Er hat mich nicht angesehen, er hat die Augen niedergeschlagen. »Schick sie fort«, habe ich gesagt. »Bis ich ... bis es vorbei ist. Hol sie erst wieder zurück, wenn ich, wenn ich ...«
    Ach. Ich sollte mir das Weinen abgewöhnen. Es nützt nichts, mir tun die Augen davon weh, und das ist wirklich unangenehm und lästig.
    Papa will es nicht. Er sagt, dass wir Mama brauchen, Sam und ich. Was für ein dummes Zeug. Sam und ich brauchen niemanden. Das ist vorbei. Wir sind beinahe erwachsen. Ich glaube, dass er es ist, der nicht allein sein will, wenn der Tag gekommen ist.
    *
    S t. Irais, 26. August
    Papa hat Cousin Jules eingeladen. Er soll hierbleiben und sich auf seine Aufgabe als Hausherr vorbereiten, hat er gesagt.
    Mir ist es nicht recht. Ich habe Sammy gefragt, was sie davon

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