Das Haus am Abgrund
mir, tapferer junger Ritter, und lass dich töten.«
Ich stürzte mich auf ihn, ohne auf Novembers Flehen zu achten, versuchte mich zu retten, in Sicherheit zu bringen, sie allein zu lassen ...
Cenn Crúach wich geschmeidig meinem Angriff aus. Seine Fingerspitzen berührten meine Schläfe, und diese zarte Berührung ließ die Kalte Stelle wie eine Supernova aufglühen. Novembers gequälter Aufschrei war das Letzte, was ich hörte, und der grelle Blitz des Schmerzes das Letzte, was ich empfand.
» … geht niemand ans Telefon. Ich rufe Dr. Evans«, hörte ich jemanden sagen.
»Warte«, sagte eine andere Stimme. »Er hat geblinzelt.« Eine weiche Hand streichelte über meine Schläfe. »Adrian? Bist du wieder da?«
Ich hob stöhnend die Lider und sah in Novembers Augen. Sie schimmerten wie das Licht auf dem Wasser. Es war ganz falsch gewesen, sie mit Bleiweiß und hellem Blau zu malen. Das Weiß musste ich mit ein wenig Gold mischen und die Reflexe waren eher smaragdgrün als blau. Ich hob selbstvergessen die Hand und berührte ihre Wange. »Mondaugen«, sagte ich. »Eis und Schmetterlingsflügel, Silberschuppen und Licht auf Schnee.«
Ihr Blick tauchte in meinen. »Sonnenaugen«, erwiderte sie. »Zimt und Karamell, Bernstein und das Herz der Flammen.« Ihre Finger berührten meine Schläfe, wanderten über meine Wangenknochen zu meinen Lippen. Die Zeit hielt für uns den Atem an.
Erst als die alte Ms Vandenbourgh sich räusperte und mit sanfter Beharrlichkeit fragte: »Ist alles in Ordnung mit dir, Adrian? Ich erreiche deinen Vater nicht. Soll ich einen Arzt für dich rufen? Wie geht es dir? Adrian?«, erst da begann die Uhr wieder zu ticken und die Welt rückte erneut an Ort und Stelle.
Ich hob meinen Kopf aus Novembers Schoß – denn ich lag ausgestreckt auf dem Sofa, wie mir jetzt erst bewusst wurde – und richtete mich auf. »Was war los?«
»Du bist umgekippt«. Sie mied meinen Blick. »Einfach umgekippt. Großmutter erzählte uns gerade vom niemals aufgeklärten Verschwinden der ersten November Vandenbourgh.«
I ch schüttelte benommen den Kopf. Ich spürte keine Schmerzen, nur einen starken Druck auf der Schläfe. »Alles prima«, sagte ich. »Kein Problem. Es tut mir leid, wenn ich euch erschreckt habe.«
Die alte Ms Vandenbourgh nickte erleichtert, wenn auch mit ein wenig Skepsis im Blick, und legte das Telefon wieder auf den Tisch. »Soll ich später noch einmal versuchen, deinen Vater zu erreichen, damit er dich abholt?«
Ich trank einen Schluck kalten Kakao und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig, danke. Ich bin gleich wieder wie neu.«
Sie sah mich besorgt an. »Du musst es wissen«, sagte sie. »Ich denke, wir sollten es für heute gut sein lassen. Die Geschichte ist ohnehin viel zu lang für einen einzigen Nachmittag.« Sie rieb sich mit einer müden Geste über die Augen. »Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr wiederkommt. Morgen?«
November stand auf und zog mich auf die Füße. »Morgen«, sagte sie. Zögerte einen Moment und fügte dann hinzu: »Danke, Großmutter.«
Die alte Frau sah auf und blickte ihre Enkelin mit weit geöffneten Augen aufmerksam an. Sie nickte leicht. »Danke«, sagte sie. »November.«
27
Wir gingen schweigend die Straße hinunter. Ich schob meine Hand unter Novembers Ellbogen und glich meine Schritte ihren an, sodass wir in einem Rhythmus gingen.
»Hast du ... auch gesehen, was ich gesehen habe?«, fragte ich nach einer Weile.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte sie. Ich warf ihr einen Blick zu, aber sie sah zur Seite. Ihre Miene war verschlossen.
»Ich meine den Keller. Das Gewölbe. Wir waren schon einmal da, erinnerst du dich?«
»Nein«, sagte sie. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
Ich schwieg und dachte über die Geschichte nach, die Ms Vandenbourgh uns erzählt hatte. Verrückterweise passte es zu dem, was Milton Skegg gesagt und dem, was ich aus seiner Sammlung erfahren hatte. Mich schauderte. Alles hier roch nach etwas Bösem, das schon lange über diesem Ort lastete. Sehr lange. Und November war der Schlüssel zu all dem.
Milton Skegg – mir fiel wie ein schwerer, kalter Stein auf den Magen, was Nova vor unserem Besuch erzählt hatte. Ich blieb stehen und hielt sie fest. »Was ist mit Skegg?«, fragte ich.
Sie sah mich fragend an. »Mit wem? Ach so, der Mann aus d em Wohnmobil.« Sie biss sich fest auf die Lippe. »Ich weiß es nicht«, sagte sie dann. »Hab nur gehört, dass er im Krankenhaus liegt.«
Ich sah
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