Das Haus am Abgrund
als würde er jemandem neben ihr zuhören, den November weder sehen noch hören konnte. Sie schauderte.
»Danke«, sagte Adrian plötzlich und legte die Hände vor der Brust zusammen. Er verneigte sich kurz und höflich. Dann blinzelte er mehrmals, als erwachte er aus tiefem Schlaf, und lächelte November an. »Der Roshi«, sagte er und fragte: »Hast du ihn gesehen?«
November schluckte. »Nein«, flüsterte sie und warf einen Blick über ihre linke Schulter. Dort war niemand. Sie hatte es auch nicht erwartet.
»Schade«, sagte Adrian. Er wirkte enttäuscht. »Ich hatte gehofft – weil du doch den Joker gesehen hast –, na, egal.«
»Was ... was wollte er?« November entschied sich, Adrians Erscheinungen für den Moment als reale Wesen zu betrachten.
Adrian lächelte schief. »Er hat mir eine Vorlesung gehalten, dass ich mich bei Jonty entschuldigen soll. Vertrauen und so. U nd er hat mich gefragt, ob du dabei warst, als sie den armen Milton Skegg zusammengeschlagen haben.«
November nickte knapp. »Und?«
Adrian blickte auf das Tagebuch in seinem Schoß. »Er findet dich in Ordnung, glaube ich.«
November grinste. »Danke. Nett von ihm.«
Er grinste zurück. Dann blätterte er flüchtig in dem Tagebuch, aber sie konnte erkennen, dass er nicht darin las. Er zuckte die Achseln und legte es auf den Tisch. »Gehen wir?«
30
ADRIAN
Es imponierte mir, wie tapfer November an meiner Seite auf das Haus zumarschierte. Ihre angespannte Haltung zeigte deutlich, dass sie Angst hatte. Aber sie zögerte nicht, wurde nicht langsamer, lächelte mir sogar zu. Ich nahm ihre kalte Hand und hielt sie fest. Neben mir tauchte der Roshi hinter einem Busch auf und hüstelte. »Êdorian, darf ich dich darauf hinweisen, dass ihr im Begriff seid, euch in Gefahr zu bringen?«
Ich schnaufte. »Roshi, das ist kein guter Zeitpunkt«, sagte ich laut.
Novembers Finger zuckten in meiner Hand. »Was?«
»Der Roshi«, sagte ich kurz. »Er meckert.«
»Ich meckere nicht, ich warne«, erwiderte er sanft. »Du magst es für ein Abenteuer halten, aber es ist mehr als das. Viel mehr.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Roshi, ich weiß. Das hier ist kein Film und kein Buch. Es passiert wirklich.«
Er trappelte neben mir her und strich seinen Bart. Ich sah seine neongrünen Turnschuhe im Dämmerlicht schimmern wie seltsame Aliens. »Du weißt gar nichts«, sagte er. »Du glaubst, e twas verstanden zu haben, aber du befühlst nur den Rüssel des Elefanten.«
»Ich bin keiner deiner blinden Mönche«, sagte ich kurz.
»Was für blinde Mönche?«, fragte November. Wir waren stehen geblieben, kurz vor der Schattengrenze, wie ich die Stelle inzwischen nannte, hinter der das Haus alles Licht und alle Wärme zu schlucken schien.
»Das ist eine buddhistische Geschichte.« Ich sah zu der schwarzen, stumm über uns aufragenden Masse des Hauses auf. Wie eine Gewitterwolke oder eine steile Bergwand hing es über unseren Köpfen. »Ein Raja bittet ein paar blinde Mönche, ihm einen Elefanten zu beschreiben. Sie gehen hin und befühlen ihn – einer fühlt seinen Stoßzahn, einer seinen Kopf, einer seinen Rüssel, einer sein Ohr, einer sein Bein, einer seine Schwanzspitze. Und dann kommen sie zurück und erzählen dem Raja, was ein Elefant ist. Ein Topf, eine Säule, ein weicher Korb, eine Bürste, eine Pflugschar. Und dann fangen sie an, sich zu prügeln, weil jeder denkt, er allein würde die Wahrheit kennen.« Ich lachte. »Natürlich ist das nur ein Gleichnis für die begrenzte Wahrnehmung und die Dummheit der Menschen, richtig, Roshi?«
Der alte Japaner lächelte. »Nein, das ist eine wahre Geschichte. Ich kenne den Elefanten persönlich, er hat sie mir erzählt.«
Ich lachte ihn an und faltete mit einer kleinen Verbeugung meine Hände vor der Brust. Er freute sich immer so, wenn ich das tat.
November seufzte. »Es macht mich ein bisschen nervös, wenn du mit jemandem redest, den ich nicht sehen kann.«
Ich konnte das verstehen. Deshalb ignorierte ich das leise Gejammer des Roshis, nahm wieder Novembers Hand und zog sie ü ber die Schattengrenze, ehe wir beide es uns anders überlegen konnten.
Es wurde schlagartig finster und ich konnte hoch über einem der Giebel ein Stück des Vollmonds erkennen. Hier schien immer der Vollmond und es war immer herbstlich kalt. Es war gruselig. Ich merkte, dass wir langsamer gingen. »Wollen wir wirklich?«, hörte ich November flüstern.
Der Roshi war nicht mit uns gekommen. Ich atmete tief ein, wie vor dem
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