Das Haus am Abgrund
Brote macht. Ich habe Hunger, du nicht?«
November wollte verneinen, aber dann hörte sie, wie ihr Magen knurrte. Sie hob den Daumen und lachte Adrian an.
»Super. Geh schon mal rauf – du weißt ja, wo mein Zimmer ist.« Mit diesen Worten verschwand er durch die Küchentür.
November stieg die Treppe hinauf und betrat Adrians Zimmer. Es war so ordentlich aufgeräumt, dass sie kaum glauben konnte, in einem Jungszimmer zu sein. Mama hatte ihren Bruder deswegen immer ... Sie riss sich mit Nachdruck von diesem Gedanken los und betrachtete die Bilder an der Wand. Augen. Er malte nur Augen. Das war schon ein bisschen verrückt. Aber irgendwie waren die Bilder auch toll.
I hr Blick fiel auf das unfertige Bild auf der Staffelei. Sie blinzelte verblüfft, schluckte und legte die Hände an die Wangen, die plötzlich ganz heiß wurden. Das war eines ihrer Augen. Sie kannte niemanden sonst, dessen Iris diese Farbe besaß, außer der alten Ms Vandenbourgh.
Hinter ihr sprang die Tür auf und schlug gegen die Wand. Adrian kam herein, ein Tablett in den Händen. »Tee und Brote«, sagte er kauend. »Magst du kaltes Hühnchen?«
November hatte sich schon ein Sandwich genommen und hineingebissen. »Lecker«, murmelte sie.
»Ary, bist du ... ah.« Der große Professor stand in der Tür. Er sah aus, als hätte er geschlafen, seine Augen waren gerötet und die Lider geschwollen. Er hielt einen Becher in der Hand und trank daraus. »Wie nett, dass Sie uns besuchen, Ms Vandenbourgh.« Er reichte ihr die Hand.
November drückte sie und lächelte ihn an. »November«, sagte sie. »Bitte, Mr Magnusson, Sie können mich gerne beim Vornamen nennen.«
»Jonathan«, erwiderte er mit einem Zwinkern. Dann sah er Adrian an. »Essen wir gemeinsam? Bleiben Sie zum Essen, November?«
Sie wunderte sich über Adrians reservierten, beinahe unfreundlichen Gesichtsausdruck. »Nein, ich denke nicht«, sagte er knapp. »Wir wollten noch weg.«
»Schade. Ms Dickins hat irgendwas mit Hühnchen gemacht.« Jonathan stellte seinen Becher auf den Tisch und nahm eines der Sandwiches. »Ich bestehle euch«, sagte er und biss hinein.
November lachte und warf dem seltsam missgestimmten Adrian einen fragenden Blick zu. Der beugte sich vor, hastig, ver s tohlen, und stippte seinen Finger in Jonathans Tasse. Er leckte ihn ab und sein Gesicht entspannte sich.
November runzelte die Stirn und sah den Professor an. Er hatte Adrians seltsames Verhalten offensichtlich ebenfalls bemerkt, denn er hatte aufgehört zu kauen. Seine Miene bewölkte sich. Adrian und er tauschten einen Blick, den November nicht deuten konnte.
»Entschuldige«, sagte Adrian. »Ich habe mir nur Sorgen gemacht.«
»Ist schon in Ordnung«, antwortete Jonathan. Er griff nach seiner Tasse und trank einen geradezu demonstrativ großen Schluck, dann nickte er November zu. »Es war mir eine Freude. Vielleicht besuchen Sie uns wirklich einmal zum Essen?« Ohne Adrian eines Blickes zu würdigen, ging er hinaus und schloss leise die Tür hinter sich.
»Was war das denn?«, fragte November.
Adrian seufzte und legte das Gesicht in die Hände. »Ich bin ein Idiot«, murmelte er dumpf.
November beugte sich vor und klopfte tröstend auf seine Schulter. »Warum hast du den Finger in seine Tasse gesteckt?«
Er stöhnte. »Frag mich nicht«, sagte er. Er ließ die Hände sinken und zuckte mit den Schultern. »Manchmal ist das Leben ganz schön kompliziert.«
»Nicht nur manchmal.« November nahm das vorletzte Sandwich und biss energisch hinein. Das knackige Salatblatt krachte zwischen ihren Zähnen und die Mayonnaise tropfte über ihre Finger. Sie leckte sie ab und wischte die Hand an der Papierserviette sauber, die die vorsorgliche Haushälterin dazugelegt hatte. »Wollen wir los? Es wird sonst zu dunkel.«
A drian starrte mit zusammengekniffenen Augen an ihr vorbei ins Leere. Er nickte geistesabwesend. »Hast du das Tagebuch noch?«
November zog es aus ihrer Tasche und reichte es ihm. Er griff nicht danach, sondern starrte immer noch knapp an ihrem linken Ohr vorbei. Es machte sie ganz kribbelig. »Wie war das mit Milton Skegg? Du warst dabei?«
November wandte den Blick von seinem Gesicht. An diesem Tag erschien er ihr so fremd und wechselhaft, so launisch und unberechenbar wie der weite Atlantik an einem stürmischen Herbsttag. »Ja«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich war dabei. Ich habe die Polizei gerufen.«
Er nickte. »Gut«, sagte er, immer noch mit dieser abwesenden Miene. Es war,
Weitere Kostenlose Bücher