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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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Sprung in ein Becken mit kaltem Wasser, und drückte Novembers Hand. »Los.«
    *
    »Adrian!« November umarmte mich. Dann errötete sie und ließ mich hastig los. »Ich habe so lange auf dich gewartet«, sagte sie.
    Das Zimmer war mir fremd und mit schweren dunklen Möbeln eingerichtet. Die Vorhänge waren dicht zugezogen, ein bisschen Licht kam von einer Tischlampe, die auf dem Schreibtisch neben dem Fenster stand. Ich sah ein aufgeschlagenes Tagebuch, das dort lag. »St. Irais, 18. Oktober« stand dort in geschwungenen Buchstaben. November folgte meinem Blick und griff hinüber, um es zu schließen. »Sei nicht so neugierig«, rügte sie mich sanft, aber ihre Augen lächelten.
    Sie trug ein dunkles, hochgeschlossenes Kleid mit einer dicken Strickjacke darüber. Ihre Augen waren gerötet. Ich griff unwillkürlich nach ihrer Hand. »Ist etwas geschehen?«
    Sie schüttelte abwehrend den Kopf. Dann nickte sie. »Meine Mutter«, sagte sie. »Vor vier Wochen.« Sie erwiderte den Druck meiner Finger. »Ist schon gut«, sagte sie. »Sie war schon lange n icht mehr bei uns.« Ihr Lächeln war tapfer, aber ich sah die Trauer, die es durchwob wie kleine Regentropfen.
    Ihr Gesicht war ganz nah. Ihre Lippen weich und süß mit einem kleinen Beigeschmack von Tränen. »Es ist bald so weit«, flüsterte sie in die Küsse. »Der erste Tag im November. Ich bin die Novemberbraut, Adrian. Ich fürchte mich so. Aber ich bin froh, dass Mama es nicht mehr erleben muss.«
    Sie ließ ihr Haar wie einen Vorhang vor ihr Gesicht fallen. Es war das erste Mal, dass ich sie mit offenem Haar sah und sie erinnerte mich mehr als je zuvor an eine Elfe. Ich sprach es laut aus und ihr Lachen belohnte mich.
    Sie blinzelte durch die hellen Haare. »Ich bin keine Elfe«, sagte sie. »Dazu bin ich viel zu trampelig.« Ihr Lachen war honigsüß und dunkel, und ich hielt sie im Arm und küsste sie so selbstvergessen, dass kein bisschen Verstand in meinem Kopf sich fragte, was an dieser Szene nicht stimmte. Und es stimmte nichts, aber auch gar nichts. Was war das für ein Zimmer? Wieso war das Haus keine Ruine? Wie konnte es schon Oktober sein?
    »November«, sagte ich gedankenverloren, als wir später nebeneinander vor dem Kamin saßen, Hand in Hand. Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter.
    »Adrian«, sagte sie. Ihre Finger streichelten über die Kalte Stelle. Es tat gut. »Cousin Jules wird meine Schwester heiraten«, sagte sie beiläufig. »Jules und Sam. Das passt doch wunderbar zusammen.« Da waren Tränen in ihrer Stimme, aber als ich sie ansah, lächelte sie. »Wunderbar.«
    »Erzähl mir«, sagte ich. »Von diesem Haus. Von dir.«
    Sie schüttelte sacht den Kopf. »Du bist so selten hier«, flüsterte sie. »Ich will die Zeit nicht damit vergeuden, irgendwelche G eschichten zu erzählen. Wir haben vielleicht nur noch diesen Abend. In zwei Wochen werden sie mich hinunterbringen, in einem wunderschönen weißen Kleid. Ich werde den Kranz und den Schleier tragen und einen Strauß Rosen ... die Rosen werden morgens für mich auf der Schwelle liegen. Weiße Rosen im November. Ach, Adrian!« Sie warf sich herum und barg das Gesicht an meiner Brust. Ich legte meine Arme um sie. Hilflos. Wütend. Was taten sie ihr an? Sie war vor Angst außer sich.
    »November ...«, sagte ich.
    Sie schüttelte den Kopf. »Nicht reden«, flüsterte sie. »Nicht denken.«
    Ich beugte den Kopf und legte meinen Mund auf ihren Scheitel. »Ich werde da sein. Bei dir.«
    Der Druck ihrer Arme um meine Taille verstärkte sich. »Du willst mich retten? Das kannst du nicht.« Sie hob den Kopf. Ihr Gesicht war feucht, aber sie lächelte wieder. Oder lächelte sie immer noch? Es war ein schreckliches Lächeln, schlimmer als ein Schrei. »Es wird geschehen, wie es seit Jahrhunderten geschieht. Ich bin das Pfand. Unsere Familie lebt in Frieden und Reichtum und uns geschieht nichts Böses. Dafür sorge ich. Wenn die Braut sich sträubt, wenn der Brautvater sich weigert, wenn es keine Braut gibt, weil das Winterkind vor seinem sechzehnten Geburtstag stirbt – dann geschieht Schreckliches. Blut und Tod und Wahnsinn, Adrian, Feuer und Mord und Krankheit. Das Dorf muss darunter leiden, meine Familie wird dafür büßen. Ich will nicht, dass schreckliche Dinge passieren. Ich werde dort hinuntergehen und mich still auf diesen Thron setzen und warten, während die Rosen duften.« Sie schluchzte einmal laut auf, dann schüttelte sie die Tränen aus ihrem Gesicht und richtete sich auf. S ie

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