Das Haus am Nonnengraben
hinfahren, denn er hatte Jourdienst. Innerlich fluchend entschuldigte er sich bei seiner neuen Bekannten. Doch bevor er ging, gab er ihr noch seine Visitenkarte und seine Handynummer, falls sie einmal »Fragen an die Staatsanwaltschaft« hätte.
»Du heißt Berg?« Sie sah ihn ungläubig an.
»Ja, warum?«, fragte er im Gehen. So ungewöhnlich war sein Name doch gar nicht.
Gleich am nächsten Morgen rief er seinen Freund Werner an. Werner reagierte sehr unwirsch. Erstens war er noch im Halbschlaf und zweitens …
»Dann stell halt dein Handy ab, du Depp, wenn du nicht gestört werden willst«, knurrte Benno. »Also weißt du jetzt, wie Katjas Freundin heißt, oder nicht?«
»Welche von Katjas zahlreichen Freundinnen meinst du denn?«
»Die große, gut aussehende mit den vielen roten Haaren.«
»Ach, der Feger«, grummelte Werner und riskierte damit eine alte Freundschaft. Benno hörte Gemurmel im Hintergrund. »Sie heißt Dr. Hanna Tal, und jetzt lass mir mei Ruh!«
Hanna Tal. Sie hieß Hanna Tal! Wenn das kein Zeichen war! Benno liebte Zeichen. In ihm lebte ein archaisches Bedürfnis nach Wegmarken in der Wildnis des Schicksals. Eine offene oder verschlossene Tür, ein höflicher oder rücksichtsloser Autofahrer, der Umstand, etwas sofort zu finden oder erst lang danach suchen zu müssen, konnte für ihn ein Zeichen für einen guten oder einen schlechten Tag sein. Auch wenn er sich über diese Macke lustig machte, beeinflusste ihn das davon ausgehende Sicherheitsgefühl doch bis zu einem gewissen Grad. Und nun: Hanna Tal und Benno Berg – er konnte es kaum glauben. Eigentlich hieß er Benjamin, Benjamin Severin, nach seinen Großvätern mütter- und väterlicherseits, aber im Kindergarten hatte jemand, der Benjamin nicht aussprechen konnte, Benno zu ihm gesagt, und dabei war es geblieben.
Er musste sie unbedingt wiedersehen. Benno spielte in Gedanken lange mit den Namen – Hanna Tal, Benno Berg –, denn er hatte eine weitere kleine Leidenschaft: Buchstaben. Sein Lieblingsvokal war das »A«, hell und warm, der Laut des Lachens, des Lebens, der Freude, der Kraft. Das »E« dagegen schien ihm ein gänzlich durchschnittlicher Buchstabe zu sein, langweilig und gewöhnlich, der Buchstabe der Vorsilben und Endungen. Benjamin Severin Berg! Das »E« brauchte dringend das »A«. Und zusammen?
»A« und »E« ergaben »Ä«. Und das war ein sehr bambergischer Vokal, der häufigste im Bamberger Dialekt. Benno tat sich immer noch schwer mit dieser Sprache. Anfangs hatte sie in seinen Ohren abstoßend geklungen, schwer, breit und langsam, derb und sehr erdnah, die Sprache von Gärtnern – in Bamberg mit mindestens zwei »Ä« gesprochen. Aber nach und nach entdeckte er, dass es da eine Witzigkeit gab, die er mochte, einen untergründigen, selbstironischen Humor, der sich im Understatement versteckte und nur dem offenbart wurde, der seiner würdig war, der gewogen und nicht für zu leicht befunden worden war. Keine Sprache für »locker vom Hocker« und »don’t worry, be happy«. Seine Zuneigung zum »Ä« war inzwischen groß.
Benno versuchte, sich endlich auf die Akten zu konzentrieren, als das Telefon klingelte. Er schnappte nach Luft – es war tatsächlich Hanna. Sie wollte ihn »dringend sprechen«. Benno legte den Hörer auf und stieß einmal triumphierend die Faust in die Luft. Er strahlte. Sie hatte angerufen! Wie oft hatte er in den vergangenen Tagen den Hörer in die Hand genommen und wieder aufgelegt, ein paarmal hatte er es auch klingeln lassen, aber niemand hatte geantwortet. Und jetzt rief sie an und wollte ihn dringend sprechen! Er kämmte sich die ewig struppigen Haare, steckte den Kamm zurück in die hintere Hosentasche, zerrte an seinem Pullunder und rückte sinnlos einige Akten auf seinem Schreibtisch hin und her, die dadurch auch nicht weniger wurden. Wie lange fünf Minuten dauern konnten!
4
Hanna fühlte sich unwohl. Schon wenige Schritte von Tante Kunigundes Haus entfernt blieb sie stehen, lehnte sich an das steinerne Brückengeländer und schaute flussabwärts. Sie sah das Beinchen des Engels nicht, das dort aus der Wand des Brückenrathauses ragte, und nicht die großen Figuren der Tugenden daneben, die seit der Barockzeit streng und pathetisch auf die Vorübergehenden blickten. Dabei hätte sie eine der Tugenden ganz gut gebrauchen können. Denn sie war im Begriff zu lügen. Und das war ihr Problem. Sie wusste, dass sie sehr schlecht lügen konnte. Ohne gelegentliche
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