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Das Haus am Nonnengraben

Titel: Das Haus am Nonnengraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Degen
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Korrekturen der Wahrheit oder dessen, was man als solche wahrnahm, kam wohl niemand aus. Aber richtig lügen – sagen, etwas sei weiß, wenn man wusste, dass es schwarz war –, das war Hanna einfach unmöglich. Wie sollte sie Benno nur die Existenz von Tanja verschweigen, ohne rot zu werden oder zu stottern?
    Sie ging weiter, durch den Rathausturm auf der Brücke hindurch und auf der anderen Seite hinunter zum alten Franziskanerkloster, dem vorübergehenden Sitz der Staatsanwaltschaft. Dabei legte sie sich sorgfältig zurecht, was sie Benno sagen wollte. Sie hatte auf der Party damals deutlich gespürt, wie angetan er von ihr gewesen war. So etwas machte Männer ein bisschen blind. Und deshalb wollte sie ihm von dem Fund der Leiche erzählen und nicht der Polizei.
    Doch dann stand sie lange vor der alten Eichentür, starrte auf das silbrige Holz, strich mit den Fingern über die Verzierungen und konnte sich nicht entschließen. Schließlich holte sie tief Luft und klopfte. Bennos fragendes »Ja?« wirkte aufmunternd. Hanna mochte seine Stimme, warm und klar und tief.
    Er saß im hellen Mittagslicht hinter einem riesigen Schreibtisch voller Schriftstücke, sprang auf, als er sie sah, und kam ihr sichtlich erfreut entgegen. Er schwenkte einen imaginären Schlapphut, machte einen Diener und sagte fröhlich: »Was verschafft mir die Ehre Eurer strahlenden Anwesenheit in meinem bescheidenen Büro, Mylady?«
    Hanna gelang nur ein dünnes Lächeln. Steif und verzagt sagte sie: »Ich habe eine Leiche gefunden.«
    Bennos Strahlen erlosch. »Du hast eine Leiche gefunden?«, wiederholte er. »Wo?«
    »Im Haus am Nonnengraben. Dieses heruntergekommene Haus an der Ecke –«
    »Ja, ich weiß, welches Haus du meinst«, unterbrach er sie. »Es sieht aus, als ob es seit Jahren leer stünde.«
    »Tut es ja jetzt auch.«
    »Was hast du … aber setz dich doch erst mal, du siehst ganz mitgenommen aus.«
    »So fühl ich mich auch. Wirklich, es war grässlich.«
    Er führte sie zu der kleinen Sitzgruppe in einer Ecke des Zimmers und rückte ihr höflich einen der Sessel zurecht. Die Möbel stammten aus der Zeit um 1900. Die hatte Benno wohl beim Umzug ins Franziskanerkloster mitnehmen können. Hanna hatte nämlich vor einiger Zeit einen Bericht über das historische Zentralgerichtsgebäude am Wilhelmsplatz geschrieben und wusste deshalb, dass ein großer Teil der originalen Ausstattung in den sechziger Jahren verschenkt oder verbrannt worden war, auf dass mit schicken Resopalschreibtischen ein frischer Wind in die alten Mauern zöge. Hier war nun einer der wenigen erhaltenen Reste, massive klar gezeichnete Möbel, gelbbraunes Holz, dunkelroter abgewetzter Samt mit kugeligen Messingnägeln befestigt, einladend. Hanna klammerte sich an diese Erinnerung, weil sie nicht wusste, wie sie anfangen sollte.
    Benno half ihr. »Weshalb warst du in dem Haus?«, fragte er ernst.
    »Ich soll einen Artikel über das Haus schreiben. Es gehört einer Frau Rothammer. Ich habe versucht, sie anzurufen, und als das nicht klappte, bin ich heute früh hingegangen. Die Klingel funktionierte auch nicht, aber als ich die Tür angelangt habe, ging sie auf. Da bin ich hineingegangen.« Hanna schwieg.
    »Und dann?«
    »Habe ich sie gefunden.«
    »Die Leiche liegt hinter der Eingangstür?«
    »Nein, nein, sie liegt in der Küche im ersten Stock. Besser gesagt, sie sitzt da, am Tisch, am Küchentisch. Und zwar offenbar schon ziemlich lange.« Plötzlich begann Hanna zu ihrem eigenen Erstaunen zu weinen. »Es war so grauenvoll. Überall die Maden. Und es hat so furchtbar gerochen. Ich glaube, den Gestank werde ich mein Leben lang nicht mehr los. Dieser ekelerregende Haufen da am Tisch, und das war einmal ein Mensch, mit Gefühlen und Wünschen und Leuten, die ihn lieb gehabt haben. Der Gedanke ist so deprimierend. Es war … es war … so trostlos, und ich habe … ich habe …« Nein, sie konnte nicht sagen, dass sie sich im Gang übergeben hatte, die Hemmschwelle der hygienischen Erziehung war einfach zu hoch. »Ich habe mich hinterher nicht besonders wohl gefühlt.« Sie schniefte. Unterschwellig wusste sie genau, dass sie bis zu einem gewissen Grad Theater spielte, um Benno von ihrem Geheimnis abzulenken.
    Aber er reagierte nicht so, wie sie es erwartet hatte – besorgt und bereit, ihren Tränen alles zu glauben. Er wirkte eher ein bisschen ungeduldig und holte ein sauberes Taschentuch aus seiner Jackentasche. Sie war erstaunt, dass das Papier ganz glatt und

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