Das Haus am Nonnengraben
weiß war. Wie brachte der Mann das nur fertig? Bei Hanna waren Papiertaschentücher nach kürzester Zeit zerfasert und schmuddelig. Sie hielt sich das Taschentuch an die Augen und schluchzte noch einmal auf.
Er legte ihr nur leicht die Hand auf den Arm und murmelte: »Ist ja gut, ist ja gut.« Doch er ließ ihr Gesicht keinen Moment aus den Augen und sah sie mit jener Intensität an, die ihr damals gleich an ihm aufgefallen war, mit einem Blick, der zu hören schien über das Sichtbare hinaus.
»Ist dir in dem Haus irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Na ja, eine Leiche ist für mich schon ziemlich ungewöhnlich. Aber sonst … es ist ein altes, leer stehendes, völlig verwahrlostes Haus. Es muss einmal sehr schön gewesen sein, aber die Besitzerin hat offenbar seit langer Zeit nichts richten lassen. Und jetzt ist sie tot.«
»Woher weißt du denn, dass die Tote die Besitzerin des Hauses war?«
»Ich, ich weiß nicht. Ich habe das halt angenommen.«
»Aha. Und ansonsten war das Haus leer? Hat sie allein da gelebt?«
Oh, dachte sie. »Ich glaube, sie war allein in ihrer Wohnung, aber ich war nicht in allen Zimmern; es hat so gestunken.«
»Wie hast du sie denn gefunden?«
»Ich bin die Treppe hochgegangen und dann in den Salon und dahinter liegt die Küche und da war sie.«
Er wirkte nicht ganz überzeugt. »Und was hast du dann gemacht?«
»Ich habe versucht, die Polizei anzurufen, aber das Telefon ging nicht. Und mir wurde schlecht und ich hab nach dem Klo gesucht, aber es reichte nicht mehr.« Jetzt hatte sie es doch gesagt. Das war peinlich genug, aber vielleicht erklärte es ihre Verlegenheit.
»Und von wo hast du dann mit mir telefoniert?«
Eigentlich wollte Hanna sagen, sie sei zu ihrer Tante gegangen, die wohne in der Nähe. Doch ihr fiel noch rechtzeitig ein, dass sie die Tante besser nicht erwähnte, wenn Tanjas Aufenthaltsort nicht entdeckt werden sollte. »Ich, äh, ich bin zu einer Telefonzelle gegangen.«
Er schwieg einen Augenblick, dann stand er seufzend auf. »Dann wollen wir uns mal ins unappetitliche Gefecht stürzen.« Er griff zum Telefon. »Du hältst dich bitte zur Verfügung, wir werden noch Fragen an dich haben.«
Als sie Bennos Büro verließ, war sie erleichtert, aber auch seltsam enttäuscht. »Du hältst dich bitte zur Verfügung!« Was war denn das? Er war doch an ihr interessiert gewesen. Wie er gestrahlt hatte, als sie in sein Büro gekommen war! Es war schon lange her, dass sie einmal geweint hatte, und dann das! Von dem Knistern, das sie auf der Party geschmeichelt wahrgenommen hatte, war nichts mehr zu spüren gewesen. Vielleicht war er ja auch nur ein kleinkarierter Juristentrottel. Oder verheiratet oder so etwas.
Sie blieb an einem Gangfenster stehen und sah in den Hof hinunter. Irgendetwas stimmte nicht an ihrer Argumentation. Der Fehler lag nicht bei ihm. Sie hatte versucht, seine Sympathie für sich auszunutzen, und war durch ihre Lügengeschichte in eine schiefe Position geraten. Sie gefiel sich im Moment nicht, ganz und gar nicht.
Der ehemalige Kreuzganghof war beim Umbau des Klosters vor einigen Jahren zu einem Kunstwerk umfunktioniert worden. Plötzlich sah sie es: ein Steinpfad und ein Metallbogen, schlicht und ohne Umwege. Sie drehte sich um und ging zu Bennos Büro zurück.
Doch er war schon gegangen. Die Tür war verschlossen.
5
Benno traf Kriminalhauptkommissar Werner Sinz direkt vor dem Haus am Nonnengraben. Mit ihm arbeitete er besonders gern zusammen. Er hatte Werner an der Universität Regensburg kennengelernt, wo beide Jura studierten, bevor Werner zur Polizei ging und Benno die Richterlaufbahn wählte. Später verschlug es sie beide nach Bamberg, und sie wurden mehr und mehr zu Freunden. Sie ruderten, kochten und wanderten zusammen und teilten ihre Liebeskümmernisse. Sie hatten denselben Humor, machten sich gegenseitig Witze zum Geschenk, und beide liebten ihre Arbeit: die Suche nach Spuren, das Ergänzen von einzelnen Mosaiksteinchen zu logischen Bildern, das Jagdfieber, die Herausforderung ihrer Intelligenz, das Hineindenken in Menschen und ein beinahe trotziges Verlangen nach Gerechtigkeit. Sie stöhnten über die Schreibtischarbeit und über ihre Chefs, was zu zweit viel genussvoller war.
Als Benno ankam, schloss Werner gerade sein Fahrrad am Geländer vor dem Haus an.
»Nanu, du kommst allein?«, fragte Benno.
»Du hast mich grade hier in der Nähe erwischt, als du angerufen hast. Meine Leute kommen in etwa zwanzig Minuten
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