Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
nach oben zu werfen, je mehr sie sich dem Haus näherte. In der Schule hatten die Mitschülerinnen oft mit leichtem Gruseln festgestellt, dass es ein Abklatsch von Rose Hall war, jenem unheimlichen, inzwischen längst verfallenen Haus in der Nähe von Montego Bay, in dem eine grausame weiße Frau ihre Männer angeblich ermordet und Sklaven zu Tode gequält hatte. Und man munkelte auch, dass diese Frau, die im Volksmund »weiße Hexe« genannt wurde, des Voodoo-Zaubers mächtig gewesen sein sollte. Heute wusste Valerie, dass die äußere Ähnlichkeit der Häuser darin begründet lag, dass Rose Hall im Jahre 1760 von demselben Architekten für einen Zuckerbaron entworfen worden war.
Ein flüchtiger Blick auf das Fenster im oberen Stockwerk bewies Valerie, dass Grandma tatsächlich bis eben dort gestanden hatte, denn die Gardine bewegte sich, obwohl an diesem heißen Tag kein einziger Luftzug durch das Haus ging.
Valerie übergab ihren Hengst Black Beauty dem Stallburschen und tätschelte dem Pferd zum Abschluss den Hals. Was für ein schönes Tier! Und was für ein Glück, dass sie es bekommen hatte, wenn auch auf seltsame Weise. Grandma hatte sich nämlich strikt geweigert, ihr ein eigenes Pferd zu schenken, aus dieser blödsinnigen Angst heraus, wie Valerie fand, ihr könne etwas zustoßen. Ihr wurde etwas wehmütig ums Herz, während sie auf den Eingang zueilte. In Gedanken war sie bei jenem Tag, an dem sie in den Besitz dieses wertvollen Tieres gelangt und der untrennbar mit James Fuller verbunden war. Aber diesen jungen Mann wollte sie, nach allem, was ihr vorhin widerfahren war, niemals wiedersehen. Dennoch stand ihr sein Bild so intensiv vor Augen, dass es beinahe schmerzte.
Es war vor zwei Monaten passiert. Sie erinnerte sich an jede Einzelheit, als wäre es gestern gewesen: An jenem Tag war Valerie Zuschauerin bei einem Pferderennen. Am Start waren alle jungen Männer der feinen englischen Gesellschaft, vor Kraft strotzende Kerle, die aus allen Ecken der Insel nach Montego Bay gekommen waren, um sich mit den anderen zu messen. Es war kein professionelles Rennen, sondern ein Wettbewerb der jungen Männer. Es ging um Prestige und Macht. Geld hatten sie alle genug, die Söhne der wohlhabenden Handelshäuser. Nein, bei diesem Ereignis ging es allein darum, zu beweisen, was für gute potenzielle Ehemänner sie waren. Und das vor den heiratsfähigen Damen. Valerie war mit ein paar Freundinnen dort. Kichernd und hinter vorgehaltener Hand tauschten sie sich über ihre Favoriten aus. Valerie gefiel James Fuller mit Abstand am besten. Ein blond gelockter, hochgewachsener Engländer, dessen Schwester Cecily ihre beste Freundin war. Schon seit ihrer Kindheit waren sie unzertrennlich. Sehr zum Kummer von Cecilys Mutter und Valeries Großmutter. Offenbar gab es eine abgrundtiefe Abneigung zwischen diesen beiden Frauen, über die Valerie aber trotz mehrfacher Nachfrage bislang nichts Näheres hatte erfahren können. Strahlend verriet Valerie ihrer Freundin, dass sie James Fuller von allen jungen Männern am attraktivsten fand.
»Mach dir keine Hoffnungen«, flüsterte Cecily ihr daraufhin ins Ohr, »bei uns zu Hause bestimmt Mutter, wen wir heiraten, und sie hat bereits eine für ihn ausgeguckt!«
Valerie zuckte mit den Achseln. Es war ja nicht so, dass sie sich in den Reiter unsterblich verliebt hatte. Aber sein Pferd war das Schönste von allen! Die Spannung stieg, dann fiel der Startschuss. Die Pferde schossen aus ihren Boxen. Alle bis auf eins! Der schwarze Hengst von James Fuller blieb stehen. Er rührte sich nicht vom Fleck. Der Reiter versuchte alles, vergeblich! Valerie hielt den Atem an.
»O weh, das arme Tier!«, bemerkte Cecily entsetzt, und Valerie wusste genau, was sie damit sagen wollte. Aller Augen waren nämlich auf James Fuller gerichtet und nicht auf die Pferde, die ins Rennen gegangen waren. Nein, die ganze feine Gesellschaft ergötzte sich voller Schadenfreude an dem störrischen Pferd, das sein Besitzer offenbar nicht im Griff hatte. Schlimmer konnte ihn sein Pferd gar nicht blamieren. Ein Pferdebesitzer, dem sein Tier nicht gehorchte, gab sich der Lächerlichkeit preis.
Valerie war derart aufgeregt, dass sie an den Fingernägeln kaute. Sie wünschte sich von Herzen, dass James Fuller die Zügel seines Pferdes ergriff und sich zurückzog. Doch er stieg ab, stand völlig verschwitzt und verzweifelt vor dem Tier und schien zu überlegen, wie er mit dieser Schmach umgehen sollte. Nimm dein Pferd und
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