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Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)

Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ava Bennett
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der Deckel hineingefallen war. Deshalb verströmte die braune Flüssigkeit ihr Aroma so intensiv.
    »Verdammich noch eins, wer macht denn so was?«, murmelte er und fragte sich, wem seiner Angestellten er wohl zutrauen würde, dass er sich hier unten im Keller heimlich Rum abfüllte. Und nicht einmal versuchte, die Spuren seines Vergehens zu beseitigen. Kopfschüttelnd beugte sich der Kaufmann über das offene Fass.
    Da knarrte es erneut hinter ihm, doch er schaffte es nicht einmal mehr, sich umzudrehen, weil ihn eine Hand grob mit dem Kopf in das Fass stieß. Sein Bruder hatte ihn als Kind einmal mit dem Kopf in die Ostsee getaucht. Genauso fühlte sich das hier an. Nur dass das Salzwasser nicht so schrecklich in seinem Gesicht und seinen Augen gebrannt hatte wie der Rum. Die Angst war dieselbe. Die Angst zu ertrinken. Unfähig, einen Laut hervorzubringen, weil er in dem Augenblick verloren hatte, in dem er seinen Mund öffnete und die Flüssigkeit ihm in den Rachen drang. Das wusste er wohl. Er versuchte nach hinten zu treten und um sich zu schlagen, aber er trat und schlug ins Leere. Wenn er dem Dieb bloß erklären konnte, dass er den Vorfall vergessen würde, dass so ein kleiner Fehltritt es nicht wert sei, einen Mord zu begehen …
    Als könne der Angreifer Gedanken lesen, lockerte sich der mörderische Griff und er schöpfte Hoffnung. Bereute der Schuft seine Tat und entschied sich, nicht zum Mörder werden? Doch dann hörte er eine wütende Stimme brüllen: »Nun mach schon!« Sie kam ihm bekannt vor …
    Der Druck auf seinen Kopf verstärkte sich wieder. Er hatte vergeblich auf Gnade gehofft. Ein paarmal bemühte er sich, den Kopf zu heben, aber die Pranken, die ihn untertauchten, waren stärker. Lange würde er den Mund nicht mehr zu geschlossen halten können. Er brauchte Luft zum Atmen.
    Wie von ferne und gedämpft drang ein Lachen an seine Ohren, ein hämisches Lachen, und auch wenn er es nur schwach wahrnahm, wusste er sofort, wem es gehörte. Die laute Stimme hatte soeben sein Todesurteil verkündet. Und in diesem Augenblick ahnte er, dass es keine Tat war, um einen kleinen Diebstahl zu vertuschen, sondern ein von langer Hand geplanter Mord mit einem großen Ziel.
    Er öffnete den Mund und wollte um Hilfe schreien, doch die braune Flüssigkeit, die jetzt wie ein Wasserfall in seinen Hals schoss, ersparte ihm weiteres Leiden.

Erster Teil
Wie ich dich liebe? Laß mich zählen wie.
Ich liebe dich so tief, so hoch, so weit,
als meine Seele blindlings reicht, wenn sie ihr Dasein abfühlt
und die Ewigkeit.
Aus den Portugiesischen Sonetten von Elizabeth Barrett Browning,
übertragen ins Deutsche von Rainer Maria Rilke

1
Montego Bay, Jamaika, Februar 1883
    D as imposante Haus, das in der gleißenden Sonne schneeweiß leuchtete, lag auf einem grünen Hügel über der Bucht. In Montego Bay nannte man es Sullivan-House, benannt nach seiner Eigentümerin, Misses Hanne Sullivan, die bei ihren englischen Nachbarn nur Anne Sullivan hieß, da ihnen der Name Hanne nicht geläufig war. Jedermann in Montego Bay kannte den Weg zum weitaus prächtigsten Anwesen der ganzen Gegend. Von Weitem wirkte der imposante Bau im gregorianischen Stil wie eine Mischung aus Schloss und Burg. Ein Eindruck, der sich verstärkte, je näher man dem Gebäude kam. Der Weg dorthin führte zunächst durch eine Allee von Palmen, dann folgte zu beiden Seiten eine Reihe rot blühender Hibiskusbüsche.
    Valerie liebte es, die lange Auffahrt hinaufzugaloppieren. Sehr zum Kummer ihrer Großmutter, die in ständiger Sorge schwebte, ihr könnte etwas zustoßen. Dabei munkelte man, dass die »nordische Lady«, wie die reiche alte Dame in einer Mischung aus Respekt und Furcht in Montego Bay genannt wurde, früher selbst einmal eine passionierte Reiterin gewesen wäre. Valeries Großmutter hatte dafür nur ein Kopfschütteln übrig, wie sie überhaupt niemals über ihre Vergangenheit redete. Dabei rankten sich die wildesten Gerüchte um Anne Sullivan. Hinter vorgehaltener Hand wurde sie gar von weniger freundlichen Zeitgenossen die »schwarze Frau« genannt. Doch das alles schien an Valeries Großmutter abzuprallen.
    Sie war die stolzeste Frau, die Valerie jemals gekannt hatte, und sie war völlig anders als die alten englischen Ladys, die in den übrigen Herrenhäusern in Montego Bay lebten. Grandma, wie Valerie ihre Großmutter liebevoll nannte, nahm im Gegensatz zu den anderen Damen in keiner Weise am gesellschaftlichen Leben teil. Sie hasste die

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