Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
sein allabendliches Ritual, bevor er sich später auf seinem Anwesen vor den Kamin setzte oder sich ins warme Bett legte, um seine junge Frau in den Arm zu nehmen.
An diesem Abend trank er hastig einen zweiten Schluck, denn es quälte ihn die bange Frage, ob sie überhaupt Kinder bekommen konnte. Oder ob es gar an ihm lag, dass sich nach über einem Jahr Ehe immer noch kein Nachwuchs ankündigte. Und dabei hätte der Kaufmann, Senator und Betreiber des größten Spirituosenhandels der Stadt so gern einen eigenen Nachkommen gehabt. Er war der Ansicht, es wäre dem Familienunternehmen förderlich, wenn zwei Männer sich die Spitze teilten. Wenn es sein müsste, würde er sogar einer Tochter dieselben Rechte zugestehen. Doch seine Frau wurde nicht schwanger. Nun hatte er zumindest vorgesorgt für den unwahrscheinlichen Fall, dass ihm der Kindersegen verwehrt bleiben und ihm etwas zustoßen sollte. Dann nämlich, so hatte er bei dem alten Notar hinterlegt, würde seine Frau die Hälfte des Imperiums und sein privates Vermögen erben.
Er schüttelte sich, während er einen dritten Schluck nahm. Seit Jahren schon beschäftigte er sich mit der Frage, wie man den Rum noch weicher und runder machen könnte. So war und blieb es ein raues Getränk, das mit Vorsicht zu genießen war. Und das außer ihm kaum jemand pur zu sich nahm. Dementsprechend fühlte er sich bereits beim dritten kräftigen Schluck leicht benebelt. Dabei war er ganz nahe daran, eine Idee zu entwickeln, wie das Getränk für den Abnehmer noch genießbarer gemacht werden konnte.
Seiner Meinung nach waren Wohl und Wehe eines Rums abhängig von der Art des Destillierens. Er wusste allerdings auch aus der Obstbrennerei, dass mit jedem Brennen zwar der Alkoholgehalt stieg, der Geschmack jedoch immer fader wurde. Seit Jahren schon tüftelte er insgeheim an einer Destille, die beide Vorteile verband, also ergiebiger war. Gerade gestern erst hatte er seiner Frau davon erzählt, ihr die geheime Lade in seinem Schreibtisch und die darin verwahrten Zeichnungen seiner noch nicht vollendeten Destille gezeigt. Seine Frau war sehr böse geworden, als er ankündigte, sie für den Fall seines Ablebens in dieses Geheimnis einweihen zu wollen. Er solle nicht so etwas Schreckliches sagen, hatte sie geschimpft und ihm unter Tränen versichert, er sei bei besserer Gesundheit als manch junger Mann. Er hatte nicht durchblicken lassen, dass er genau wusste, auf wen sie dabei angespielt hatte. Im Gegenteil, er tat ihr gegenüber so, als hätte er keine Ahnung, wem ihr Herz zumindest zum Zeitpunkt der Heirat gehört hatte. Er war zufrieden mit dem, was er von ihr bekam, und das wurde immer mehr. Nicht dass er sich einbildete, sie liebte ihn leidenschaftlich, aber sie respektierte ihn. Dessen war er sich sicher. Und sie wünschte sich genauso intensiv ein Kind wie er …
Doch ihre heftige Reaktion hatte den Rumhändler davon abgehalten, ihr von dem Testament zu ihren Gunsten zu berichten. Dem Umstand, dass ein Mann sich in seinem Alter zumindest in Gedanken mit dem möglichen Ableben beschäftigen musste, mochte sie sich nicht stellen.
Einen Schluck noch, dann tauche ich aus meiner Unterwelt auf, dachte er entschlossen, als er hinter sich ein Knarren vernahm.
»Ist da jemand?«, fragte er, während er panisch nach seiner Petroleumlampe griff und sich blitzartig umwandte. Doch mehr als seinen Schatten auf der weißen Wand, dort, wo keine Fässer gestapelt waren, entdeckte er nicht. Seinen Schatten!
Ich höre schon Gespenster, dachte er und nahm noch einen Schluck. Wenn es so um ihn bestellt war, dass er jetzt schon Geister sah, wollte er auch nicht mit dem Teufelszeug geizen. Dann würde er heute eben nur noch berauscht ins Bett fallen.
Da war es schon wieder! Er bildete sich das nicht ein. Außer ihm musste noch jemand im Lager ein! Er hielt den Atem an. Ob es von der anderen Seite des Ganges kam? Leise schlich er bis zum Ende und lugte vorsichtig um die Ecke. Als er mit der Lampe leuchtete, war auf den ersten Blick nichts Verdächtiges zu erkennen. Dann stutzte er. Was war das? In der Mitte des Ganges stand ein Fass. Das war ungewöhnlich. Er näherte sich zögernd. Was hatte das Fass mitten im Weg zu suchen? Jetzt drang ihm der strenge Geruch von Rum in die Nase. So intensiv konnte es gar nicht aus den verschlossenen Fässern riechen. Hier stimmte etwas nicht! Da sah er den Grund: Die oberen drei Reifen waren abgeschlagen worden, sodass das Fass sich aufgefächert hatte und
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