Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
Vorstellung, zu den Ladys zum Tee oder mit ihnen zum Dinner zu gehen. Nein, sie lebte zurückgezogen auf ihrem Anwesen, und wenn sie überhaupt einmal von ihrem Hügel kam, dann ließ sie sich in einer geschlossenen Kutsche fahren.
Sie sah auch anders aus als die Damen, die Valerie in Grandmas Alter kannte. Sie war sehr groß, hatte einen aufrechten Gang und besaß kein einziges graues Haar. »Das liegt in meiner Familie«, pflegte sie zu sagen, wenn Valerie für ihr weiches, helles Haar schwärmte.
Grandma trug ausschließlich schwarze elegante Kleider. »Warum trägst du immer nur Schwarz?«, hatte Valerie sie einmal als Kind gefragt.
»Weil ich das vor einer halben Ewigkeit beschlossen habe, nachdem mir etwas Wertvolles genommen worden ist«, hatte Grandma erwidert. Mehr gab sie nicht preis.
Das wenige, was Valerie wusste, war, dass Grandma keine Engländerin war, wenngleich sie die Sprache perfekt beherrschte. Und dass sie aus der zweitgrößten Hafenstadt des ehemaligen Dänischen Gesamtstaates stammte, aus Flensburg. Einer Stadt, die inzwischen zur preußischen Provinz Schleswig-Holstein gehörte.
Das allerdings hatte Valerie nicht in der Schule gelernt. Wenn man sie Geschichte lehrte, dann die des englischen Königshauses. Nein, das hatte Großmutter ihr beigebracht. Jedes Mal, wenn sie über ihre Heimatstadt sprachen, wurden Grandmas Augen feucht, und sie überspielte das, indem sie ihre Enkelin mit Informationen über Flensburgs wechselhafte Geschichte fütterte. Wenn Valerie es jedoch wagte, persönliche Fragen zu stellen, wehrte Grandma ab. Valerie hatte lediglich in Erfahrung bringen können, dass sie dort noch Verwandte hatte, die mit dem bekannten Hensen-Rum handelten, der auf Großmutters Zuckerrohrplantage in einer sagenumwobenen Destillerie gebrannt wurde, dann in Fässer gefüllt und zum Abtransport nach Flensburg bereitgemacht wurde.
Valerie kannte den Geschäftsführer von Grandmas Unternehmen, Mister Kilridge, der Großmutter in regelmäßigen Abständen Besuche abstattete. Dann zogen sich die beiden in den Salon zurück, und niemand durfte sie stören. Selbst Valerie nicht! Dabei hatte Grandma ihr von Kindheit an eingetrichtert, dass sie einst Herrin über das Unternehmen sein würde. Valerie fragte sich allerdings, wie sie das je bewerkstelligen sollte, wenn Grandma sie von allem fernhielt. »Du wirst alles noch früh genug erfahren«, pflegte ihre Großmutter zu sagen, wenn Valerie voller Ungeduld nachfragte. Mit denselben Worten wehrte sie auch Valeries Fragen nach dem Grund ab, warum sie im Gegensatz zu ihrer Großmutter pechschwarzes Haar und einen ganz und gar nicht blassen Teint besaß. Valerie sah vielmehr stets aus, als hätte sie den Tag ohne Sonnenschirm im Freien verbracht, was sich für eine junge Lady keinesfalls gehörte.
Diese dumme Hautfarbe, dachte sie erbost, denn in diesem Moment konnte sie nicht mehr länger verdrängen, was ihr soeben im hochherrschaftlichen Salon der Fullers widerfahren war. Sie gab ihrem Pferd die Sporen, während sie spürte, wie die Zornesröte in ihr aufstieg.
Es hatte ein netter Nachmittag beim Tee werden sollen, diese erste Begegnung mit James Fuller nach der Geschichte mit dem Pferd. Seine Mutter war neugierig gewesen, die junge Frau kennenzulernen, die ihren Sohn zum Held der gesamten Frauenwelt Montego Bays gemacht hatte. Deshalb hatte sie Valerie zum Tee eingeladen. Wenn Valerie daran dachte, wie sehr sie sich darauf gefreut hatte, James wiederzusehen, wurde sie nur noch wütender. Und wie fest sie sich vorgenommen hatte, bei seiner Mutter einen guten Eindruck zu machen … Doch anstatt beweisen zu können, dass sie drei Sprachen beherrschte, Klavierspielen konnte, überaus gebildet und eine exzellente Reiterin war, taxierte Misses Fuller die ganze Zeit über verstohlen Valeries Gesichtsfarbe. So lange, bis Valerie es nicht mehr aushielt. Sie wählte den Augenblick, als James den Salon kurz verlassen hatte. Wahrscheinlich hatte er das angespannte Schweigen nicht mehr ertragen. Natürlich hätte Valerie ihren Mund halten sollen, aber das entsprach nicht ihrem Naturell. Und sie war schließlich freundlich und höflich geblieben und hatte lediglich eine kleine Bitte geäußert.
»Misses Fuller, wenn mir etwas von Ihrem köstlichen Teekuchen im Mundwinkel hängt, so sagen Sie es mir bitte. Ich würde umgehend Abhilfe schaffen.«
In dem Moment ließ Misses Fuller ihre freundliche Maske fallen. Wie eine Verbrecherin starrte sie Valerie an.
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