Das Haus der blauen Schmetterlinge - Roman
Käfig hockte. Zwar war sie, da Alfons ihr eine Anleitung zum richtigen Umgang mit dem Gast gegeben hatte, nicht mehr so nervös wie bei der ersten Begegnung, trotzdem spürte Elsa, dass sie eher so etwas wie ein zweiter Papagei war, mit dem die Hausherrin jedoch fremdelte.
Um vierzehn Uhr ging Bente üblicherweise spazieren, allerdings nur, wenn weder Niederschlag drohte noch Nebel die Sicht trübte, was in den zwanzig Tagen ihrer Anwesenheit genau viermal vorkam. Elsa begleitete sie nur zu gern, denn das Haus zu verlassen war ihre einzige Ablenkung. Die schweratmige Bente hielt es jedoch schon für einen Höhepunkt, durch drei, vier StraÃen zu flanieren, um sich » mal sehen zu lassen « , und schon saà sie wieder auf dem Sessel vor dem Radio. Abgesehen von dem Papagei waren Wunschkonzerte ihr ganzes Glück.
An den anderen Tagen war Elsa allein unterwegs, was ihr im Grunde viel lieber war. Endlich begann sie, jene Welt, die für sie vorgesehen war, zu erforschen und zu erfassen.
Als Erstes bemerkte sie die Stille, die es so auf den pazifischen Inseln nicht gab. Dort rauschte wenigstens der Passat, meistens erfüllte Gezwitscher die Luft, auch nachts sangen manche Tiere, und alles zeugte von Leben. Die Stille des vornehmen Stadtviertels hatte etwas Melancholisches an sich, ebenso wie die seltsam dumpfe Helligkeit, dieses austernfarbene Licht, das es in der Südsee nicht gab. Die Weser spiegelte das Grau des Himmels wider, wie geschmolzener und dennoch kalter Stahl strömte sie durch die Stadt, auch sie geräuschlos.
Die älteren Bremer waren Elsa durchaus zugetan, sie bemerkten ihre Andersartigkeit, ohne sich daran zu stören. Allerdings waren die Hanseaten nicht gerade für ihre Ãberschwänglichkeit berühmt, weshalb es nie zu einem fröhlichen Beisammensein kam, nicht mal in dem Kaffeehaus, das Elsa fast täglich aufsuchte. Von dort aus beobachtete sie eines Tags eine Parade junger Männer in braunen Hemden, die eine merkwürdige Fahne vor sich hertrugen. Einige der Vorbeimarschierenden bedachten Elsa mit finsteren Blicken. Nur wenige Tage später teilte ihr der Wirt mit, sie sei ihm jederzeit willkommen, aber er meine es nur gut, wenn er ihr empfehle, sich bei ihm nicht mehr blicken zu lassen. Seit zwei Monaten sei eben nichts mehr wie früher, auch im weltoffenen Bremen nicht.
Elsa ging auch weiterhin spazieren und besuchte trotz der Warnung das Kaffeehaus. Wenn sie nur beharrlich genug bliebe, so glaubte sie, dann würden sich schon ein paar fröhliche Freunde finden, durch die die Luft wärmer und das Licht heller würden. Sie ertappte sich dabei, nach der Farbe Blau zu suchen. Beinahe beschwörend blickte sie abwechselnd in den Fluss und in den Himmel. Sie kaufte entsprechende Kleider und Schals, strich über den Stoff, schloss die Augen und stellte sich den Pazifik vor. Bereits ein aus dem Winterschlaf erwachtes Eichhörnchen oder ein Schwarm einfliegender Stare bereiteten ihr Vergnügen, das jedoch keiner mit ihr teilte. Um Gelächter zu hören, musste sie schon auf einen Spielplatz oder Schulhof gehen. Dabei musste sie immer an das Kind denken, das sie in sich trug. Dass es in einigen Jahren dieselben Orte aufsuchen, eine anständige Ausbildung machen, eine feste Heimat haben würde. Es sollte eine bessere Kindheit und Jugend genieÃen als sie und ohne die innere Zerrissenheit aufwachsen, unter der sie noch immer litt. Mit ganzer Kraft versuchte sie sich zu Hause zu fühlen, für das Kind, für Henning, für ihre Schwiegereltern â und für ihren Vater.
Während Elsa am achtzehnten Tag gedankenversunken im Kaffeehaus saÃ, ging ein leichter Regenschauer nieder. Ausgerechnet darin entdeckte sie endlich eine Gemeinsamkeit mit der Südsee, die Erinnerung an das Prasseln des Monsuns, jenes friedliche, sonore Rauschen, das einen in Träumen und durch den Tag begleitete. Einer Schlafwandlerin gleich, trat Elsa ins Freie. Die Kälte des Regens nahm sie kaum wahr, auch nicht die Nässe, sondern einzig die Melodie. Sie war zugleich unerklärlich schwer und unsagbar leicht, ein Requiem, und sie war wie die Brandung, die weiÃe Gischt, die die Atolle überspülte.
Als der Schauer nach einigen Minuten nachlieÃ, war Elsa völlig durchnässt. Die Leute hinter der Fensterscheibe des Kaffeehauses starrten sie an, ebenso zwei Halbwüchsige im braunen Hemd, die sich auf der anderen
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