Das Haus der blauen Schmetterlinge - Roman
Tränen nicht zurückhalten. Zuerst dachte sie, sie würde um den Vogel weinen, aber dann merkte sie, dass sie um ihr Leben weinte. Der Panzer aus Stolz, der sie bislang vor den ärgsten Gefühlen geschützt hatte, hielt den Tiefschlägen nicht länger stand.
Die von den Schiffsschrauben aufgewirbelte Gischt leuchtete hellweià im Mondlicht. Es wäre so leicht â¦
Mach es wie die Möwe, sagte Elsa sich. Lass dich einfach fallen, jetzt, ohne einen Laut. Dann hast du es hinter dir, und alles ist weg, der Schmerz, die Schande, die Demütigung, die Heimatlosigkeit. Was hält dich noch auf dieser Welt?
Das Kind gewiss nicht. Noch spürte sie keine echte Beziehung zu dem Leben, das in ihr heranwuchs, sie nahm es ihm sogar ein wenig übel, dass es ihr die Entscheidung erschwerte. Was konnte sie ihm schon bieten? Wo würden sie leben? Eine ledige, schwangere Frau, ein Mischling mit einem Mischlingskind, eine ewig VerstoÃene seit der Kindheit und bis in alle Zukunft. VerstoÃen als Samoanerin, als Ehefrau, als Deutsche.
Es war wie ein Herantasten an den Tod, als sie einen Fuà auf die unterste Stange des Geländers stellte. Ein Zittern ging durch ihren Körper wie durch ein Blatt, das sich, vom Wind erfasst, loslöst von dem, was es gehalten hat.
Vielleicht hätte sie das Geld doch annehmen sollen, die tägliche Banane für das Ãffchen. Sie hatte es nicht getan, und nun war es zu spät. Bei Alfons und Henning betteln, das kam nicht infrage. Es war besser, in Würde zu sterben, als von der Fütterung zu leben.
Sie hob den Fuà auf die nächste Stange. Seltsamerweise ängstigte sie die Kälte des Wassers mehr als das Ertrinken.
Vor einem Jahr hatte das ganze Leben noch vor ihr gelegen, jetzt war es vorüber. Ein Jahr. So lange, wie Schmetterlinge leben. Die blauen Schmetterlinge ihrer Heimat.
Sie beugte sich über die Reling. Das schwarze Wasser sprudelte wild auf.
» Das habe ich auch schon versucht « , sagte jemand.
Elsa fuhr herum.
Vor ihr stand ein junger Mann mit einer Zigarette â weiÃer Smoking, dunkelhaarig, Seitenscheitel, nett anzusehen, ohne besondere Merkmale.
» Die Schiffsschrauben « , sagte er auf Englisch mit einem leichten amerikanischen Akzent. » Ich habe sie mit Blicken fixiert, um sie anzutreiben. Aber es funktioniert nicht. Wir werden morgen viel zu spät in Portsmouth ankommen. «
» So « , sagte Elsa geistesabwesend.
» Ja ⦠« Er war sichtlich bemüht, ein Gespräch zu beginnen. » Sie sollten vorsichtig sein. Man kippt schnell mal über die Reling. «
Elsa nahm sich zusammen. Dabei war ihr so elend zumute, dass sie am liebsten losgeschrien hätte.
» Sie verstehen mich, oder? « , fragte er. » Englisch, meine ich. Sie verstehen doch Englisch, nicht wahr? Ihrem Aussehen nach ⦠Natürlich könnten Sie auch aus Französisch-Polynesien stammen. Mein Französisch ist leider nicht das beste. Aber Sie könnten mir helfen, es zu perfektionieren. Ich nehme an, wir steigen beide in Portsmouth um und müssen dann erst mal in dieselbe Richtung. Ich will nämlich nach Ãgypten, wo ich ⦠«
Elsa ging ohne ein Wort, ohne einen Blick an ihm vorbei.
» Darf ich mich vorstellen « , rief er ihr nach. » Ich heiÃe ⦠«
Die Samoanerin verschwand im Bauch des Schiffes. Im Nachhinein wusste sie nicht mehr, wie sie ihre Kabine gefunden hatte, denn zunächst verlief sie sich und irrte umher. Das Erste, woran sie sich nach der Begegnung mit dem Amerikaner erinnerte, war der Moment, als sie das Kästchen aufschloss, das ihr Titus Warwick mitgegeben hatte. Die ganze Zeit über hatten sich die Chambermaids, Diener und Gepäckträger darum gekümmert, und so war es mit ihr gereist, ohne dass sie es noch einmal angefasst hatte. Es war ihr quasi gefolgt.
Obenauf lag ein Briefbogen. » Für alle Fälle. Man kann schlieÃlich nie wissen « stand darauf, darunter die Initialen TCW . Es folgte eine Gebrauchsanleitung für die Opiumpfeife.
Eine halbe Stunde später lieÃen Elsas Leiden nach. Es war, als lösten sie sich auf wie Tabletten im Wasser â sie waren zwar noch vorhanden, mit den Sinnen jedoch nicht mehr zu erfassen. An diesem Abend schloss sich Elsa in der Kabine ein, bis sie gegen Mittag des nächsten Tages in Portsmouth ankamen. Sie lieà niemanden zu sich.
Aus dem Leben der Schmetterlinge
In
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