Das Haus der bösen Mädchen: Roman
dass er den Stuhl umschleuderte, packte Kolja am Revers, sah ihn von unten herauf an und flüsterte: »Dort ist Gena!«
Im ersten Augenblick reagierte niemand, Kolja warf einen verwirrten Blick zu Sewa, dem zweiten Leibwächter, doch der zuckte nur verständnislos die Achseln.
»Gena, mein Neffe, ist einkaufen gegangen! Und wo soll er schon sein, wenn nicht in der Galerie am Puschkinplatz! Die hab ich ihm doch selber empfohlen! Ich wollte mitgehen, aber es ist so furchtbar heiß, und ich kann Geschäfte nicht ausstehen. Aber ich wollte eigentlich mit. Ja, das wollte ich, doch dann war ich zu faul und hab ihn allein losgeschickt…«
»Aber da gibts zwei Galerien«, bemerkte der Oberkellner vorsichtig und stellte ein hohes Glas mit eiskaltem Orangensaft auf den Tisch. »Es ist ja noch gar nicht raus, in welcher der beiden die Explosion stattgefunden hat und wo sich Ihr Neffe zu der Zeit befand.«
»Ruf an! Sie sollen je zwei Notarztwagen in jede Galerie schicken!«
Der Kellner wählte die 03 und erfuhr, dass bereits mehrere Teams zum Ort der Explosion unterwegs waren.
»Zu spät«, murmelte Pnyrja und erstarrte mitten im Saal, verwirrt und hilflos um sich blickend. Seine Hände zitterten. Er wirkte wie ein kläglicher, zu Tode erschrockener krankerGreis. So hatte ihn niemand je gesehen, und das schickte sich auch nicht. Alle Anwesenden wandten sich verlegen ab.
Die Grausamkeit und Hinterhältigkeit des alten Kriminellen waren legendär. Seine Sentimentalität täuschte niemanden. Er konnte über eine bettelarme Oma Tränen vergießen, an Waisenkinder Schokolade verteilen, und zur gleichen Zeit montierte ein Profikiller auf seinen Befehl einen Sprengsatz an ein Auto, mit dem die Familie eines starrköpfigen Geschäftsmannes, der sich weigerte, einen bestimmten Prozentsatz seines Gewinns an Seine Hoheit Pnyrja zu entrichten, auf die Datscha fahren wollte. Es hieß, Leuten, die nicht auf seine Bedingungen eingingen oder ihm im Wege waren, löse er persönlich die Zunge. Entblößte Stromkabel, heiße Bügeleisen, Nadeln unter die Fingernägel – auf solche Dinge verstand sich Pnyrja, und er liebte sie. Die Verhöre in einem Betonbunker bei Moskau waren laut Augenzeugenberichten von besonderer, geradezu pathologischer Raffinesse.
Als Erster kam der Pianist zu sich. Er stand auf, ging zu dem Alten und legte ihm den Arm um die Schultern.
»He, nicht doch!«, sprach er Pnyrja an und sah ihm in die Augen. »Es ist gar nicht gesagt, dass er da war. Das ist nicht gesagt, hörst du?«
»Ich fühle es«, krächzte Pnyrja, »ich hänge zu sehr an ihm, ich liebe ihn zu sehr, ich hab doch keine eigenen.«
»Nun beerdige ihn nicht schon vor der Zeit!« Der Pianist schüttelte den Kopf. »Schick die Jungs hin, sie sollen sich erkundigen. Hat er ein Handy dabei?«
»Ja, hat er, und die Jungs schick ich auch hin. Aber es ist ohnehin alles klar, ich fühle es. Die Explosion war kein Zufall. Die galt mir.«
»Wer sollte denn…?«, fragte der Pianist flüsternd.
»Da kommen viele in Frage.«
»Wer wusste, dass du in die Einkaufsgalerie wolltest?«, erkundigte sich der Pianist. »Denk nach – wer hat das gehört, weiß aber nicht, dass du nicht mitgegangen bist?«
»Prima, Michalytsch!« Pnyrja richtete sich auf, seine tiefliegenden Augen bekamen einen bedrohlichen trockenen Glanz, er griff nach dem Handy auf dem Tisch, und während er eine Nummer wählte, fuhr er die Leibwächter an: »He, was steht ihr da wie angewurzelt? Sewa, du gehst dorthin, und du, Kolja, überprüfst den Wagen und siehst dir hier alles noch einmal genau an. Und ruf sofort Pjotr her.«
»Aber…« Der Leibwächter zwinkerte verwirrt. »Pjotr ist in Spanien, im Urlaub. Er ist erst gestern geflogen.«
»Er soll zurückkommen!«, brüllte Pnyrja so laut, dass das Geschirr klirrte. »Dass er mir heute Abend hier ist!«
Das Handy des Neffen war abgeschaltet. Dafür meldete sich Pnyrjas Sicherheitschef Pjotr sofort. Der Leibwächter übergab Pnyrja den Hörer. Nach den Hintergrundgeräuschen zu urteilen, war Pjotr gerade am Strand.
»In Ordnung, ich nehme den nächsten Flug«, antwortete er widerspruchslos und ohne Fragen zu stellen.
Pnyrja warf das Telefon auf den Tisch und sah zur Uhr. Jetzt, in dieser Minute, sollte sein Neffe zum Essen im Restaurant sein. Pnyrja trank seinen Orangensaft in einem Zug aus. Er wünschte, er hätte seine verfluchte Intuition abschalten können, aber Jahrzehnte eines Kriminellenlebens mit Haftstrafen, Hungerstreiks
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