Das Haus der bösen Mädchen: Roman
aufgefallen, und er staunte nicht schlecht, als er sie essen sah wie hungrige Straßenkinder.
Nachdem die beiden in Windeseile Würstchen und Pommes verputzt hatten, lehnten sie sich zufrieden zurück und zündeten sich eine Zigarette an.
»Hör mal, Sweta, ich werf es nicht weg, ja?«, sagte Ira mit weinerlicher Stimme. »Das bring ich einfach nicht fertig!
»Doch!« Sweta schüttelte energisch ihr Haar. »Vergiss dieses Kleid. So ein Risiko dürfen wir nicht eingehen.«
»Aber Sweta«, schluchzte Ira, »es ist doch keiner mehr da. Wer sollte das erfahren? Ich will ja damit gar nicht durch Moskau spazieren, ich weiß schon …«
»Wie klug von dir«, spottete Sweta. »Und was willst du damit, wenn du es sowieso nirgends anziehen kannst?«
»Ich wills eben haben! Eine Frau sollte wenigstens ein Chanel-Kleid besitzen, sonst ist sie keine richtige Frau.« Ira schniefte, Tränen traten ihr in die Augen. »Echt mal, Sweta, das haben wir uns verdient, so ein Kleid, eins für uns beide. Wir können es zu Hause anziehen, nur, wenn keiner da ist, uns einfach im Spiegel bewundern. Nun schau es dir doch mal an!« Sie drückte ihre Zigarette aus, öffnete ihre Tasche und zog behutsam das himmelblaue, schwerelose, seidigsamtige Wunder heraus, streichelte zärtlich den Stoff und hielt ihn sich an die Wange.
»Pack das sofort weg!«, verlangte Sweta streng.
Ira steckte das Kleid folgsam wieder weg und richtete ihren klagenden, flehenden Blick wie hypnotisierend auf die Schwester.
»Na schön, hör auf zu jammern«, sagte Sweta nach einer langen Pause seufzend. »Behalt es eben, ist ja wirklich schade, so was Schönes wegzuwerfen. Aber wehe, du ziehst es bei uns an. Irgendwer petzt das sofort Mama Isa, und was dann los ist, weißt du selber.«
»Hältst du mich für total bescheuert?« Ira kicherte froh.
Der Dicke auf der Bank, den Blick weiterhin auf die Zeitung gerichtet, lauschte dem Gespräch der beiden und freute sich über die Abwechslung. Von den skandalösen Enthüllungen über einen hohen Staatsbeamten, drei fette Spalten, bezahlt vom Rivalen des Entlarvten, wurde ihm bloß übel. Borodin hatte sich schon so oft geschworen, keine Zeitung mehr zu lesen, kaufte aber auf dem Weg zur Arbeit jeden Morgen wieder eine Portion Presseerzeugnisse und verschlang angewidert Zeile für Zeile, sich vor sich selbst damit rechtfertigend, dass er über die aktuellen politischen Ereignisse auf dem Laufenden sein müsse.
»Ich werds gut verstecken – das findet keine Ratte.« Ira schnäuzte sich in die Serviette. »Und wenn alles vorbei ist, wirst du mir dankbar sein, wer weiß, was wir noch vor uns haben – dann besitzen wir wenigstens ein anständiges Kleid.«
»Aber wenn sie uns erwischen, können wir was erleben!« Sweta lachte nervös.
»Sei still, du Nervensäge!« Ira hielt ihrer Schwester den Mund zu. »Denk lieber daran, dass wir nicht mehr lange aushalten müssen. Und dann fängt das wahre Leben an.«
»Das kann ich nicht.« Sweta stieß Iras Hand von sich und schüttelte den Kopf. »Ich hab Angst, Ira, ich hab die ganze Zeit Angst, und du auch …«
»Ja, ja, na und? Hör mal – vielleicht verduften wir gleich dorthin?«
Sweta schüttelte wortlos den Kopf und tippte sich an die Stirn.
Borodin, ganz darauf konzentriert, das Gehörte zu verdauen, bemerkte nicht, dass sich eine elegante schlanke Dame zu ihm setzte. Er nahm sie erst wahr, als sie leise sagte: »Guten Tag, Ilja. Entschuldigen Sie, ich bin ein bisschen zu spät, ich habe Sie bei dieser Hitze warten lassen.«
»Guten Tag, Jewgenija!« Er lächelte, stand rasch auf, griff nach ihrer Hand und wollte sie küssen, konnte sich aber wieimmer nicht dazu entschließen und beschränkte sich auf einen nüchternen Händedruck.
»Ich habe jede Menge Informationen«, sagte Jewgenija Rudenko. »Es klingt vielleicht total verrückt, aber ich glaube, ich weiß den Namen des Mörders.«
»Was Sie nicht sagen!« Borodin lächelte erfreut, aber irgendwie abwesend, und Doktor Rudenko war ein wenig gekränkt.
»Er heißt Ruslan. Mit großer Wahrscheinlichkeit gehört er zu einer Art satanistischer Sekte mit einer wilden Mischung aus Vampiren, Hexen und Voodoo-Gottheiten.«
»Wieso denn nicht?«, versuchte Ira indessen ihre Schwester zu überreden. »Sag bloß, du möchtest nicht gern sehen, was da jetzt los ist? Komm schon, Sweta! Nur ganz kurz! Wir gehen einfach dran vorbei, auf der anderen Straßenseite.«
»Hör auf.« Sweta sah auf die Uhr. »Schluss jetzt, wir
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