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Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Titel: Das Haus der bösen Mädchen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Bronzeleuchter einem Kunden auf den Kopf; die Schädelverletzungen waren tödlich.
     
    In dem kleinen Restaurant auf dem Kusnezki-Prospekt spielte leise Musik. Der bejahrte Pianist war vor einer Stunde zu dieser unüblichen Zeit mitten am Tag herbeibeordert worden, um für einen seltenen und hochgeschätzten Gast zuspielen. Das gewünschte Repertoire war klar: simple, gefühlvolle Schlager der Sechziger und ein bisschen Kriminellenfolklore.
    Bevor der Gast erschien, untersuchten zwei seiner Leibwächter gründlich den Saal und die anderen Räume. Dann stieg er aus seinem gepanzerten Jeep – ein kleiner, hagerer, gebeugter Mann. Er atmete schwer und wischte sich mit einem Taschentuch den blassen, vollkommen kahlen Schädel. Auf seinen entblößten Armen mit dem dichten grauen Haarwuchs zeugten Narben von entfernten Tätowierungen. Freundlich begrüßte er alle, vom Oberkellner bis zum Garderobier, dem Pianisten drückte er sogar die Hand.
    »Tja, Michalytsch, weißt du, mein Neffe aus Woronesh ist zu Besuch«, erklärte er dem Pianisten vertraulich, »mein Neffe Gena, der Sohn meiner Schwester Galina. Verwandtes Fleisch und Blut. In zwanzig Minuten ist er hier, dann tu mir den Gefallen und spiel, wenn er reinkommt, gleich den ›Violetten Nebel‹. Den mag er.«
    »Kein Problem.« Der Pianist nickte und glitt mit den Fingern flink über die Tasten.
    »Aber jetzt spiel mir erstmal ›Aus dem Kittchen von Odessa‹.«
    Der Pianist spielte und sang. Er hatte einen weichen Bariton, nicht sehr kräftig, aber gefühlvoll.
    Der siebzigjährige Wladimir Ponomarjow, in Kriminellenkreisen bekannt als Pnyrja, setzte sich in einen Sessel und schloss die Augen. Der Oberkellner und zwei weitere Kellner verharrten neben seinem Tisch; keiner wagte, den Gast zu stören.
    Pnyrja wurde im Alter immer sentimentaler. Er sah sich alte sowjetische Filme an und weinte dabei; er hatte stets Kleingeld für Bettler in der Tasche, nötigte seinen Chauffeur, unterwegs anzuhalten, ließ die dunkel getönte gepanzerte Scheibe herunter und reichte die milde Gabe eigenhändig hinaus. Besonders rührten ihn die adretten, kultivierten altenFrauen, die selbstgefertigte Socken, Handschuhe und Spitzenkragen verkauften. Wenn er eine solche Handarbeitskünstlerin aus dem Fenster seines Jeeps entdeckte, gab er ihr schon mal hundert oder zweihundert Rubel, redete mit ihr, seufzte, nannte die alte Frau »Mütterchen« und zerdrückte häufig, zu häufig, eine Träne.
    Außerdem hatte er sich neuerdings der Wohltätigkeit verschrieben, er erkundigte sich nach Kinderheimen, wählte eines für behinderte Waisenkinder aus und ließ teure Computer mit Spielkonsolen und Lernprogrammen dorthin bringen sowie drei Fernseher samt Videorecordern. Zweimal fuhr er persönlich hin, und eines der Begleitfahrzeuge im Konvoi war bis obenhin vollgestopft mit Kinderkleidung, Spielzeug und Süßigkeiten.
     
    Kamerad, sei ein Freund und erzähl meiner Mutter,
    ihr lieber Sohn ist gefallen im Krieg,
    in der Hand einen Säbel und eine Granate,
    auf den Lippen ein fröhliches Lied.
     
    In klagendem Falsett sang Pnyrja laut und falsch mit. Tränen rannen ihm über die eingefallenen Wangen. Die Kellner warteten geduldig. Die kraftvollen Akkorde nach der letzten Strophe wurden von einem seltsamen dumpfen Krachen ganz in der Nähe begleitet.
    »Was war das?«, fragte ein Kellner flüsternd den anderen. Der schaute finster drein und zuckte die Achseln. Pnyrjas Leibwächter wechselten besorgte Blicke. Auf das Krachen folgte Sirenengeheul.
    »Kolja, schau mal raus, sieh nach, was da los ist.« Pnyrja runzelte die Stirn, nickte dem Pianisten freundlich zu und bat ihn mit einem Seufzen: »Und jetzt noch Wyssozki, ›Auf Kameradengräbern…‹ Kannst du das noch?«
    Der Oberkellner nutzte die Unterbrechung und fragte, was denn der Gast essen wolle und was für seinen Neffen zubereitet werden solle.
    »Das soll Gena selber sagen, wenn er kommt. Und ich esse mit ihm. Bring mir erst mal einen Saft.«
    Der Pianist trank einen Schluck Mineralwasser, hustete sich frei, setzte einen Ton tiefer an und imitierte die brüchige, heisere Stimme des berühmten Barden. Pnyrja schloss erneut die Augen, doch diesmal konnte er das Lied nicht zu Ende anhören. Der Leibwächter Kolja kam zurück und teilte mit, in der Einkaufsgalerie auf dem Puschkinplatz habe es eine Explosion gegeben.
    »Ein kleiner Scherz der Tschetschenen«, sagte Pnyrja gutmütig, lief jedoch plötzlich rot an, sprang so heftig auf,

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