Das Haus der bösen Mädchen: Roman
immer mehr ausgeätzte Haarbüschel zu fassen und betrachtete sie erschüttert.
Das französische Gel erwies sich allerdings als nicht sehr effektiv. Ljussja war nur stellenweise kahl, als hätte sie die Räude. Genau diese Diagnose stellte Sweta, als sie, hustend und unter Tränen, die hysterisch brüllende Ljussja mütterlich tröstete.
»Ach, unser armer Unglücksrabe! Siehst du, sogar ich heule, so leid tut es mir um deine schönen Haare! Ira heult auch. Was machen wir denn jetzt? Wir haben dich ja gewarnt, du sollst keine streunenden Katzen anfassen«, sagte sie, während sie die an verbranntes Werg erinnernden Haare von dem Schränkchen unterm Spiegel auf ein Kehrblech fegte. »Du hast bestimmt auch uns angesteckt, alle hier im Haus. Man darf nicht nur an sich denken, Ljussja.«
Erst ein paar Stunden später konnten sie ihrem Lachen freien Lauf lassen, als man die zitternde, bleiche Ljussja in die Krankenstation gesteckt und sie beide nach Lobnja geschickt hatte, die Feldscherin holen. Es war elf Uhr abends, eiskalt, und es regnete in Strömen. Sie liefen zusammen unter einem Schirm, tauchten genüsslich in die aufkommenden Lachwellen und waren davon vollkommen erschöpft, als sie bei der Feldscherin anlangten.
Sie holten die Feldscherin aus dem Bett und erzählten ihr mit Tränen in den Augen, dass ihrer lieben Schwester ein Unglück zugestoßen sei. Ira hatte einen Schluckauf, und die Alte ließ sie ein Glas Wasser in einem Zug austrinken.
Natürlich stellte die Feldscherin bei Ljussja keine Räude fest, und als sie hörte, dass die Haare nach Benutzung eines ausländischen Pflegebalsams ausgefallen waren, hielt sie einen Vortrag über die Schädlichkeit ausländischer Kosmetika. Damit die Haare schneller wieder wuchsen, empfahl sie Ljussja, den Kopf mit geriebener roher Zwiebel einzureiben.
Ljussja befolgte den Rat. Die Haare wuchsen rasch nach, aber noch schneller wuchs der Hass der Heimbewohner. Die Kinder hielten sich demonstrativ die Nase zu oder deuteten Brechreiz an, sobald Ljussja den Klassenraum, das Esszimmer oder das Spielzimmer betrat. Der Spitzname »Stinktier« wurde nur geflüstert, wenn kein Erwachsener in der Nähe war. Die Heimordnung verbot Schimpfworte, also erklärten die Kinder höflich, das Mädchen röche sehr schlecht, man halte es in ihrer Nähe nicht aus. Die starken Kinder brauchten ein Opfer, und die Erwachsenen erlaubten ihren Zöglingen, sich ein wenig auszutoben. Allerdings achteten sie strikt darauf, dass sie nicht zu weit gingen, und als Ljussja erste Anzeichen einer reaktiven Psychose erkennen ließ, bat man sie freundlich, auf die Zwiebelbehandlung zu verzichten, denn den anderen missfalle ihr Geruch. Sie entschuldigte sich stürmisch, stahl aber weiterhin Zwiebeln aus der Küche.
Hin und wieder wurde Ljussja von ihrer Tante Lilja Kolomejez besucht. Dann sprang sie schwerfällig wie ein Bär herum, umarmte und küsste die Tante unablässig und rannte mit dem Schrei »Meine Tante Lilja ist da! Meine liebe, gute Tante!« durchs ganze Haus.
Als Tante Lilja eine Woche nach der Enthaarungsgeschichte ihre unglückliche Nichte besuchte, schlug sie gewaltig Krach, ließ Ljussja ihre Sachen packen und verhörte nacheinander alle im Haus, fragte jeden: »Wer hat das getan?«
Mama Isa bat Lilja zu sich ins Büro, hinter verschlossenen Türen redeten sie eine halbe Stunde miteinander, und anschließend verließ die Tante das Haus zusammen mit Ljussja. Nach zehn Tagen kam Ljussja zurück, mit kurzgeschnittenem Haar und weniger Pickeln. Von da an holte die Tante sie ziemlich oft zu sich, fast jedes Wochenende.
Die Zwillinge kochten innerlich, wenn sie sahen, welchen Wind die Erwachsenen um diese Missgeburt machten. Sie hätten ihr halbes Leben dafür gegeben, wenn sie eine solche Tante gehabt hätten und wenigstens hin und wieder vonMama Isa weggekommen wären. Aber das gestanden sie niemandem, nicht einmal einander.
Eines Tages kam in einem Mercedes eine schicke ältere Dame voller Brillanten angerauscht. Angeblich eine Sponsorin. Sie wollte als Erstes die kleine Idiotin kennenlernen, als gäbe es bei Mama Isa keine anderen Kinder. Danach tauchte dieser komische Solodkin auf. Er quatschte was von wegen Film und filmte alles, was er sah, Szenen aus dem Familienleben des Kinderheims. Seine Hände zitterten so heftig, dass man um die teure Videokamera fürchten musste. Und auch er hing wie eine Klette an Ljussja, redete mit ihr und strich ihr über den Kopf. Und für sie, die
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