Das Haus der bösen Mädchen: Roman
vorbeieilende Moskauer Vorortlandschaft betrachtend, erblickte Ferdinand Lunz plötzlich das Gesicht von Lilja, blass wie Nebel, aber vollkommen lebendig. Er wusste, dass er nun, egal, wie lange er noch zu leben hatte, ein paar Stunden oder ein paar Dutzend Jahre, die Welt nur noch durch Liljas hellgraue Augen sehen würde, weil er seine eigenen Augen nicht mehr brauchte.
Drei Milizionäre liefen langsam durch den Wagen. Ferdinand krümmte sich und hörte auf zu atmen.
Idiot, beschimpfte er sich im Stillen, dir steht doch nichts auf der Stirn geschrieben. Feiger Schwachkopf.
Auf Liljas durchsichtigen Lippen zitterte ein trauriges, schuldbewusstes Lächeln. So lächelte sie immer, wenn sie keinen Ausweg sah.
»Nein, Lilja, nein«, wandte er sich flüsternd an das schmutzige Fenster. »Diesmal kläre ich die Sache selbst.«
»Was sagst du, mein Sohn?« Die Alte ihm gegenüber beugte sich vor. »Sags noch mal, ich habs nicht gehört.«
»Wie? Ach, nichts, entschuldigen Sie.« Ferdinand begriff, dass er laut gesprochen hatte, und fuhr in Gedanken fort, bemüht, die Lippen nicht zu bewegen.
Sieh mich nicht so an, ich weiß, du hast allen verziehen, sogar ihm. Du brauchst nichts mehr. Aber ich brauche das, versuch das zu verstehen. Erinnere dich, was du empfunden hast, als du durch das Kellerfenster
schautest. Ich habe dieses Fenster gesehen. Es ist jetzt mit schwarzer Farbe übermalt. Hat wirklich niemand geahnt, was in dieser glücklichen kinderreichen Familie vorgeht? Scharen von Journalisten haben das Heim besucht, die Lehrer kamen jeden Tag ins Haus, und alle waren hellauf begeistert. Erinnerst du dich, wie du geweint hast, als du von Ljussjas Schwangerschaft erfuhrst? Sie klagte über Übelkeit und Erbrechen, und du warst mit ihr in einer privaten Poliklinik, um ihren Magen und ihren Darm untersuchen zu lassen, und nach einer Ultraschalluntersuchung erfuhrst du die Neuigkeit. Da wusstest du, dass du nicht verrückt warst, dass du nicht in Ohnmacht gefallen warst und keine Halluzinationen und Albträume gehabt hattest. Alles, was du durch das Kellerfenster gesehen hattest, war wirklich geschehen. Du hättest vernünftig und umsichtig handeln müssen, aber deine Erschütterung war zu groß, du hast dich in den Kampf gestürzt, du hast alle Vorsicht vergessen und wolltest nicht auf meinen Rat hören. Statt dich um deine eigene Sicherheit zu sorgen, hast du dir Gedanken darüber gemacht, wie Ljussja eine Abtreibung verkraften würde. Am schlimmsten war für dich das Gefühl der eigenen Ohnmacht, du hast geweint, weil du dieses sonderbare unglückliche Wesen nicht beschützen konntest, das einzige lebende Wesen, das du geliebt hast, seit Olga und deine Mama tot waren.
»Nächste Station Lobnja«, verkündete eine mechanische Stimme.
Ferdinand stand auf, ging hinaus auf die Plattform und zündete sich eine Zigarette an.
Ja doch, ich sehe, dass meine Hände zittern. Halb so schlimm. Wenn ich erst an der frischen Luft bin, beruhige ich mich wieder. Ich habe keine Wahl. Ich kann mich nicht auf Hauptmann Kossizki verlassen oder auf Borodin. Für die bin ich der Verdächtige Nummer eins. Sie wollten mir allen Ernstes einreden, dass ich dich getötet hätte, Lilja. Da siehst du, wie dumm und unfähig sie sind. Sie haben Klaras Wohnung durchsucht und auch meine eigene Höhle, aber da, wo sie hätten
nachsehen sollen, haben sie nicht reingeschaut. Sie sind nicht auf die Idee gekommen, dass man eine Pistole einfach in mehrere Schichten Zellophan einwickeln und auf den Boden einer Schüssel mit fremder Wäsche legen kann. Und die französische Zeitschrift hatte ich in der Nacht auf dem Müll verbrannt.
An der Bahnstation wartete er nicht auf den Bus. Er wollte zu Fuß gehen. Wie eine eigene Erinnerung durchlebte er, was Lilja vor weniger als einem Monat widerfahren war.
Zwei Tage nach der Beerdigung von Tante Julia hatte Lilja Ljussja besucht, sie aber nicht mitnehmen können, weil sie einen dringenden Auftrag erledigen musste. Ljussja wollte sie lange nicht gehen lassen. Erst nachts um halb zwölf erreichte Lilja die Bahnstation und erfuhr, dass die letzten beiden Züge ausfielen und der nächste erst um sechs Uhr morgens fuhr.
Es war eine kalte Nacht. Die legalen und illegalen Taxifahrer vorm Bahnhof verlangten wegen der ausgefallenen Bahnen Wucherpreise. Lilja beschloss, zurückzugehen und bei Isolda zu übernachten. Unterwegs fing es an zu regnen. Sie wurde klitschnass, fror und dachte nur noch daran, endlich ins
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