Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Titel: Das Haus der bösen Mädchen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
Vom Netzwerk:
sich dann unter Schluchzen und stürmischen Umarmungen wieder zu versöhnen. Ihre Welt erinnerte an einen winzigen totalitären Staat mit häufig wechselnden Diktatoren, mit Verschwörungen, Umstürzen, Geheimagenten, Denunziationen und sogar öffentlichen Hinrichtungen. Xenia hielt sich abseits, und wenn ein Mädchen den Versuch unternahm, sie ins gesellschaftliche Leben einzubeziehen, indem es ihr ins Ohr flüsterte: »Weißt du, was die Mädchen gestern im Werkunterricht über dich gesagt haben?«, antwortete sie: »Nein, und ich wills auch gar nicht wissen.«
    Mitja und sie wohnten in benachbarten Aufgängen und gingen nach dem Unterricht stets zusammen nach Hause. Die Eltern beider Kinder arbeiteten bis zum späten Abend, und die beiden verbrachten viel Zeit zusammen, mal bei ihm, mal bei ihr zu Hause, machten Hausaufgaben, sahen fern oder saßen nebeneinander auf dem Sofa und lasen. In der Pubertät spielten die Mädchen der Klasse verrückt. Nicht alle natürlich, aber die kleine Gruppe, die das Sagen hatte, beeinflusste die Übrigen, Normalen.
    Sie vermaßen bei allen Mädchen der Klasse Nase, Taille, Beinlänge und Brustumfang, fertigten Tabellen und Grafikenan und ermittelten die Schönste, die Zweit-, die Drittschönste und so weiter. Das Interesse für diese äußeren Parameter wurde zu einer regelrechten Massenpsychose. Xenia ließ sich als Einzige nicht in den Tabellen erfassen, sie verweigerte sich der Vermessung, bis diese eines Tages, in der achten Klasse, gewaltsam vorgenommen wurde. Natascha Trazuk, eine Vorreiterin der Massenpsychose, hielt sie nach dem Sportunterricht im Umkleideraum fest. Unter Gekicher und dummen Sprüchen wurde Xenia gefesselt, mit einem Schal geknebelt und mit einem Bandmaß vermessen. Als alle Maße erfasst und verglichen waren, klopfte Natascha ihr gönnerhaft auf die Schulter und verkündete: »Ich habs ja gewusst. Du hast wohl gedacht, du wärst die Schönste, wie?«
    Von den fünfzehn Mädchen der Klasse lag sie nach deren Tabelle auf dem letzten Platz.
    »Und wer ist die Erste?«, fragte Mitja, als sie ihm auf dem Heimweg von der Schule davon erzählte.
    »Natascha natürlich«.
    »Aha, alles klar.« Mitja lachte. »Ein heißes Weib, der Traum jedes romantischen Mannes. Im Anglerladen gibts Würmer, ich werd hundert Gramm kaufen und sie ihr in den Kragen schütten.«
    »Auf keinen Fall!«, rief Xenia erschrocken.
    »Warum nicht?«
    »Weil ich Mitleid hab.«
    »Mit wem? Mit diesem Nilpferd?«
    »Nein, mit den Würmern.«
    Es war Ende Februar, ein trüber, dunkler Tag mit knietiefen Pfützen. Männer in orangen Westen stapften über die Häuserdächer und schlugen riesige Eiszapfen ab. Xenia und Mitja gingen sehr langsam und bogen sich vor Lachen. Sie waren total durchnässt und froren, liefen aber noch immer durch die umliegenden Höfe und konnten sich nicht entschließen, nach Hause zu gehen. Lachend küssten sie sich unversehens, zum ersten Mal richtig, auf den Mund, und danachtrauten sie sich nicht, zusammen zu einem von ihnen nach Hause zu gehen, mochten sich aber auch nicht trennen.
    Nach der zehnten Klasse wollten beide an der Medizinischen Akademie studieren. Zusammen bereiteten sie sich auf die Aufnahmeprüfungen vor. Mitja bestand, Xenia fehlten ein paar Punkte. Nach den Prüfungen fuhr Mitja mit seinen Eltern nach Zypern. Xenia blieb in Moskau, das Geld ihrer Eltern reichte knapp zum Leben.
    Xenia suchte sich eine Stelle als Stationshilfe in einem Krankenhaus. Die Arbeit war anstrengend, sie war ständig müde und spürte durch die Müdigkeit hindurch immer deutlicher, wie ihr entglitt, wofür sie gelebt hatte – ihre glückliche, reine Kinderliebe. Mitja hatte nie Zeit. Wenn sie anrief, erklärte er meist kühl und kurz angebunden, er habe furchtbar viel zu tun. Irgendwann stellte sie fest, dass er selbst sie seit September kein einziges Mal angerufen hatte.
    Als er wieder einmal sagte, er sei beschäftigt und könne sich am Abend nicht mit ihr treffen, fiel ihr ein, dass er noch ein Buch von ihr hatte, und sie bat ihn mit heiterer Stimme, es zurückzugeben.
    »Gut, ich brings vorbei«, versprach er.
    »Nein, ich komme lieber heute Abend bei dir vorbei«, platzte sie heraus.
    Seine Eltern waren nicht zu Hause. Er hielt ihr gleich an der Tür das Buch hin. Sie fragte mit gequältem Lächeln, ob er ihr nicht einen Tee anbieten wolle.
    »Ja, klar … Aber, weißt du, ich kriege noch Besuch. Ich erwarte jeden Moment einen Anruf.«
    »Keine Angst, wenn der Anruf

Weitere Kostenlose Bücher