Das Haus der bösen Mädchen: Roman
Jeans, in den dunklen Flur.
»Sie sprechen so gut Russisch, Pierre«, zwitscherte die Hausherrin und sah den Gast erwartungsvoll an. »Ohne jedenAkzent – einfach erstaunlich. Nur Ihr ›R‹ verrät den Franzosen. Ich habe in der Schule Französisch gelernt, aber das französische ›R‹ ist mir nie gelungen.«
»Meine Großmutter war Russin«, erklärte der Gast mit leisem Seufzen. »Also, Isolda, fangen wir an?« Er holte ein Diktiergerät hervor, überprüfte die Kassette, drückte auf »Aufnahme« und sagte leise: »Un, deux, trois …«
»Einen Augenblick noch. Ich habe nicht ganz verstanden – von wem haben Sie meine Telefonnummer?«
»Habe ich Ihnen das nicht gesagt?« Der Journalist hob die Brauen und neigte den Kopf ein wenig zur Seite.
»Ich habs vergessen. Mein Kleinmädchengedächtnis.«
»Ich verstehe Ihre Vorsicht.« Er lächelte breit. »Ich habe Ihre Nummer von der Redaktion der ›Femme‹. Aufgrund des Artikels in diesem Magazin bin ich überhaupt hier. Ich las von der bemerkenswerten russischen Frau, die sechs Waisenkinder adoptiert hat, und beschloss, Sie zu besuchen.«
»Fünf«, korrigierte ihn Isolda, »zwei Kinder sind meine eigenen. Der Älteste, Anatoli, er ist schon zwanzig, und die Jüngste, Ljussja, sie ist vor kurzem fünfzehn geworden.«
Gemächlich schlurfend erschien das rothaarige Mädchen und blieb, mit der Schulter gegen den Türrahmen gelehnt, auf der Schwelle stehen.
»Was ist das für ein Benehmen, Kleines?« Isolda schüttelte tadelnd den Kopf. »Du wolltest uns doch Mineralwasser holen.«
»Sofort!«
Im Rückwärtsgang verschwand das Mädchen im dunklen Flur, wobei ihre Augen und die riesigen falschen Steine in ihren Ohren aufblitzten. Dröhnend wurde die Kühlschranktür zugeschlagen, Gläser klirrten, und im nächsten Moment war das Mädchen wieder da und stellte Wasser und Gläser auf den Tisch.
»Danke, mein Sonnenschein.« Isolda versetzte ihr einen Klaps auf den Po. »Und nun geh ein bisschen raus. Tja, Larissaist wohl das Schwierigste meiner Kinder«, sagte sie nachdenklich, als sie mit dem Journalisten allein war. »Sie lebte bis zum fünften Lebensjahr bei ihrer Mutter. Die Frau war ein wahres Ungeheuer! Sie kettete das Kind mit einer Hundekette an die Heizung, hielt es bei Wasser und Brot und prügelte es ständig. So etwas vergisst man lange nicht. Es braucht sehr viel Liebe, damit die in früher Kindheit erlittenen Wunden verheilen.«
»Darf ich jetzt mitschneiden?«, fragte der Journalist vorsichtig.
»Ach ja – bitte.« Die Hausherrin öffnete die Flasche und schenkte Wasser ein. »Nein, warten Sie. Ich habe eine Bitte.« Sie stand abrupt auf, ging zu den Bücherregalen und zog eine dicke, farbenprächtige Nummer des Magazins »Femme« unter einem Stapel hervor. »Könnten Sie bitte den Artikel über unsere Familie kurz überfliegen und mir in zwei Worten sagen, was drinsteht? Mein Französisch ist ein bisschen eingerostet, aber ich möchte doch gern wissen, was man über mich schreibt.« Lächelnd reichte sie ihm das Magazin.
Auf Französisch vor sich hin murmelnd, betrachtete der Journalist die Hochglanzfotos. Die glückliche Familie am Tisch. Weißes Tischtuch, Rosen in einer Kristallvase, eine Torte mit Kerzen. Sportliche Betätigung: Schlanke Kinder in Turnhosen und T-Shirts im glitzernden Schnee. Ein behagliches Klassenzimmer. An der Wand Puschkin, Tolstoi, Einstein, eine riesige Weltkarte, in der Ecke das obligate Skelett. Zwei hübsche Zwillingsschwestern Kopf an Kopf vorm Computer. Kampfsportunterricht in der Turnhalle. Kimonos. Ein männlich wirkender breitschultriger Lehrer zeigt einem dünnen Jungen einen Griff.
»Soll ich Ihnen alles wörtlich übersetzen?«, fragte der Journalist.
»Nein, nein, nur in groben Zügen.«
»Hier heißt es, dass in Russland die Tradition der Adoption von Waisenkindern wiederbelebt wird; zu Sowjetzeiten sei das nicht möglich gewesen. Die Menschen, die verlassenenKindern ein Zuhause geben wollen, stehen vor großen Schwierigkeiten. Aber Isolda Kusnezowa klagt nie über Schwierigkeiten. Nach dem Studium an der Woronesher Pädagogischen Hochschule arbeitete sie in ihrer Heimatstadt als Kindergärtnerin, dann heiratete sie, zog zu ihrem Mann nach Moskau und fand eine Stelle in einem Heim für Waisenkinder, zusammen mit ihrem Mann. Madame Kusnezowa erzählt, das Gefühl der Ungerechtigkeit, das Mitleid mit den verlassenen, unglücklichen Kindern habe ihr den Schlaf geraubt. Weiter geht es in wörtlicher
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