Das Haus der bösen Mädchen: Roman
Rede. »Irgendetwas war mit mir geschehen. Ich konnte nicht mehr schlafen. Ich dachte an die Kinder, sorgte mich um jedes Einzelne wie um mein eigenes und begriff schließlich, dass ich nicht ruhig weiterleben kann, wenn ich nicht etwas für diese Kinder tue.« Der Journalist brach ab, trank einen Schluck Wasser und fragte: »Und, sind das Ihre Worte?«
Über Isoldas Gesicht huschte ein Schatten. Eben noch hatte sie mit sichtlichem Behagen der Übersetzung des Artikels über sich gelauscht, doch nun fühlte sie sich auf einmal unbehaglich. Ihr Blick wurde stechend und eiskalt. Sie ließ eine lange Pause verstreichen und schaute den Journalisten unverwandt an. Er lächelte erstaunt.
»Ist etwas falsch? Sie wirken verstimmt?«
»Ich? Nein, keineswegs, es ist alles richtig. Westliche Journalisten sind im Gegensatz zu unseren eigenen korrekt und genau.«
»Na wunderbar, beginnen wir doch unser Gespräch gleich damit. Wenn Sie gestatten, schalte ich jetzt das Diktiergerät ein. Über das Verhältnis der russischen Medien zu Ihnen wird im Artikel nichts gesagt. Oder soll ich weiter übersetzen?«
»Nein, nein, Sie können Ihr Gerät einschalten.«
»Wunderbar. Also, Madame Kusnezowa – was haben die Journalisten Ihnen getan?«
»Eigentlich nichts Schlechtes. Im Gegenteil. 1989 haben Presse und Fernsehen mir sehr geholfen bei meinem Kampfgegen unsere Bürokratie. Dank einiger Veröffentlichungen in Zeitungen und Fernsehen konnten mein Mann und ich den dornigen Weg durch diverse Instanzen bewältigen. Aber das ist eine langweilige Geschichte. Ich spreche nicht gern über gelöste Probleme.«
»Ich beneide Sie, das ist eine glückliche Eigenschaft. Aber gibt es denn noch ungelöste Probleme?«
»Oh, nur die ewigen Probleme. Wie in jeder Familie. Liebe, Freundschaft, Schule, das Verhältnis zwischen den Kindern.«
»Wie ich weiß, haben Sie vor einem Jahr Ihren Mann verloren. Seitdem ist es für Sie vermutlich wesentlich schwerer geworden.«
»Darüber möchte ich nicht sprechen.«
»Natürlich, entschuldigen Sie. Lebt zur Zeit außer Ihnen noch ein weiterer Erwachsener im Haus?«
»Ich bekomme Unterstützung von unserem Sportlehrer Ruslan. Er ist von Anfang an bei uns, seit 1989. Ich halte die physische Erziehung der Kinder für äußerst wichtig. Unser Motto lautete: In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist. Ich möchte erreichen, dass meine Kinder nicht nur gesund sind, sondern auch für sich einstehen können. Ruslan ist Meister des Sports im Boxen, russischer Meister im Leichtgewicht. Wegen einer Verletzung musste er den Sport aufgeben und unterrichtet seitdem. Nach dem Tod meines Mannes zog er zu uns und ist mir eine große Hilfe.«
»Ich würde ihn gern kennenlernen und mit ihm sprechen.«
»Er ist zur Zeit in Moskau, bei seiner Mutter.«
»Könnten Sie mir nicht seine Telefonnummer geben? Ich würde ihm gern ein paar Fragen stellen.«
»Ich bedaure, aber die Telefonnummer kann ich Ihnen nicht geben. In ein paar Tagen ist Ruslan zurück, dann können Sie gern wiederkommen.«
»Danke für die Einladung, das mache ich unbedingt. Sagen Sie, wie war das Verhältnis zwischen ihren eigenen und den Adoptivkindern ganz zu Anfang?«
»Natürlich war es anfangs schwierig. Aber es gibt ein probates Mittel: Liebe. Ich habe die Kinder, meine eigenen wie die adoptierten, von Anfang an zu Liebe und Freundschaft erzogen. Einer für alle, alle für einen – das ist unsere Devise.«
»Könnte ich mit einem der Kinder sprechen? Ich würde Ihrer jüngsten Tochter gern ein paar Fragen stellen. Ljussja heißt sie, nicht?«
»Warum gerade ihr?«
»Sie ist ein Mädchen, zudem die Jüngste und deshalb vermutlich am sensibelsten. Ich wüsste gern, wie sie sich in einer so großen Familie fühlt und wie die anderen Kinder zu ihr stehen.«
»Ljussja fühlt sich ausgezeichnet«, erklärte Isolda barsch, »das Verhältnis aller Kinder untereinander in unserem Kollektiv ist gut und freundschaftlich.« Sie durchbohrte die Nasenwurzel des Journalisten mit einem eisigen Blick, schaute dann demonstrativ zur Uhr und erhob sich. »Haben Sie noch Fragen?«
»Ich habe noch viele Fragen.« Der Journalist seufzte. »Aber ich sehe, Ihre Zeit ist knapp. Danke.« Er schaltete das Diktiergerät ab und packte es in seine Tasche.
Isolda begleitete ihn zum Eisentor, öffnete es und fragte mit Margarinereklamelächeln: »In welchem Hotel wohnen Sie?«
»Es heißt Or-rljonok«
»Gibt es dort ein Telefon?«
»Ja, natürlich …
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