Das Haus der Bronskis
einer Frau mit einer Tiara aus weißem Flieder Schach spielte. Der Krieg, schrieb Helena, wurde von dieser Familie überhaupt nicht erwähnt.
Andere warteten allein. Einmal übernachteten sie auf einem Gut namens Barbarin, dem Heim eines Grafen Ignacy. Graf Ignacy, ein Riese von Mann, lebte mit seiner Frau einen halben Tagesritt von der nächsten Stadt entfernt. In seinem Speisesaal starrten Dutzende von Elchköpfen auf eine Tafel herunter, in deren Mitte ein abgewetzter golddurchwirkter Offizierssattel lag.
Helena beobachtete den Grafen, wie er sich den Zinnteller immer wieder mit halbrohen Scheiben Hirschbraten nachfüllte; ihm zu Füßen gruben zwei rotzahnige Barsois ihre Kiefer in die runden Hüftgelenke des Hirschen.
»Die Deutschen?« stieß er hervor. »Was wissen die schon vom Wald . . . Wir haben uns wegen Bonaparte nicht weggerührt, warum sollten wir das jetzt tun?«
Frühmorgens hörte Helena Gewehrschüsse; sie zog die Vorhänge auf und erblickte die Wölbung des aus einem Fenster im ersten Stock vorgereckten gräflichen Kopfs; Graf Ignacy schoß Kaninchen auf dem Rasen.
Viele Gutsbesitzer waren schon fort. Gelegentlich verbrachtenHelena und die anderen die Nacht auf dem nackten Dielenboden eines verlassenen Hauses; hinter den vorhanglosen Fenstern wachte sie dann mit der Sonne auf, griff sich ihre Kleider und ging unter riesigen, in Staubdecken eingewickelten Kronleuchtern hindurch aus dem Haus.
In den ersten Oktobertagen trafen sie in Piesków ein, nordöstlich von Minsk, wo Helenas Onkel und zwei sehr sonderbare Großtanten wohnten.
Man näherte sich Piesków von unten, wie Helena sich erinnerte, über eine kleine Steinbrücke mit einem schmiedeeisernen Gitter zu beiden Seiten. Auf dem Weiher unter der Brücke schwammen Seerosen. Die Auffahrt war mit groben Steinen und Kies aufgeschüttet, die unter den Wagenrädern knirschten. Der Zug hielt in einer langen Reihe an. Auf den Stufen standen ein livrierter Butler und ein dicker Mann mit hochrotem Gesicht. Der Butler hieß Dominiecki; das rote Gesicht gehörte dem Gutsverwalter.
»Hrabina, Pani Hrabina!« Dominiecki trat auf Helenas Mutter zu. Sein Benehmen zeugte von Nervosität; ständig preßte er die Hände zusammen und öffnete sie wieder. »Wir erfuhren von Ihrem Kommen, Hrabina. Der Hrabia ist im Krieg, und die anderen sind gerade erst vor zwei Tagen nach Moskau abgereist. Aber wir haben Anweisungen, Pani Hrabina, Anweisungen. Bitte . . .« Er verbeugte sich und führte sie in eine Eingangshalle mit großflächigem Parkettboden in Schachbrettmuster.
Nach Wochen im Wald wurde Helena die breite Treppe hinauf zu einem frischbezogenen Bett und einem tiefen Sitzbad geleitet. Sie legte sich auf das Bett und zerrte sich die Stiefel von den Füßen; ein Schauer von Kiefernnadeln rieselte auf die Bettdecke. Barfuß trat sie ans Fenster undbeobachtete die Pferde, wie sie, ausgeschirrt, buckelten und ausschlugen und rund um die Koppel liefen.
Sie verbrachten einen ganzen Monat in Piesków. Die deutsche Offensive hatte sich verlangsamt, sie hatten sich westlich von Minsk eingegraben. Es würde keine Kämpfe mehr geben, war die allgemeine Annahme, bis nicht der schlammige Boden gefroren und die Straßen wieder passierbar waren.
Piesków war ein seltsamer Haushalt, und das Seltsamste an ihm waren die beiden Großtanten, die in der Mansarde lebten. Ihre Anwesenheit schwebte über dem Haus wie ein Tabu. Der einzige Zugang zu ihren Räumen war eine steile Treppe und eine Tür, die stets verschlossen war. Manchmal kamen sie tagelang nicht herunter, und in solchen Zeiten wurde ihnen das Essen auf die Treppe gestellt.
Helena erinnerte sich an die Ältere der beiden – Tante Minia – als eine zornige alte Frau, die für niemanden Zeit hatte; was ihr an Zuneigung verblieben war, wandte sie den zwei Dutzend Kaninchen zu, die sie auf einem eingezäunten Stückchen Land in der Nähe der Küche hielt. Wenn sie überhaupt redete, dann eigentlich nur über Kaninchenmist.
Ihre Schwester war einen Meter achtzig groß, taub und berüchtigt fromm. Gott hatte sie so groß gemacht, sagten die Leute, damit sie dem Himmel näher wäre. Ihre Tage verbrachte sie, wenn nicht in der Mansarde, dann in der Pieskówer Kapelle, wo ihre Schultern und ihr langer Hals wie eine Kirchturmspitze aus den hinteren Bankreihen aufragten. Da sie taub war, sprach sie selten; wenn sie vermutete, daß jemand etwas zu ihr sagte, lächelte sie einfach und schloß die
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