Das Haus der Bronskis
Augen.
Helena erhaschte ab und zu einen Blick auf sie in der Kapelle, schaffte es aber nie, ein Wort von ihr zu hören.Mit Tante Minia redete sie nur einmal. Die alte Dame saß in der Ecke ihres Kaninchenverschlags und fütterte einen riesigen Eselhasen mit Salatblättern. »Wer bist du?« fragte sie.
»Helena.«
Tante Minia musterte sie kritisch; das hundsgroße Tier in ihrem Schoß mümmelte vor sich hin. »Was sind deine Lieblingsbeschäftigungen?«
»Spazierengehen . . . Reiten. Ich lese viel.«
»Du bist zu hübsch, um klug zu sein. Vertrau keinem Buch und vertrau keinem Mann mit blauen Augen und keiner Frau, die lacht. Halte dich an Tiere.« Und die alte Dame versenkte ein weiteres Salatblatt im Kaninchenmaul.
Der Gutsverwalter hatte eine gesundheitlich sehr anfällige Frau, die überdies eine entfernte Kusine von Helenas Mutter war. Es war deshalb durchaus
comme il faut
, daß Helena sich mit seinen Töchtern anfreundete. Oder zumindest mit einer: die andere hatte nach einer unglücklichen Liaison mit einem russischen Offizier einen Selbstmordversuch unternommen, und es war Helena verboten, mit ihr zu sprechen.
Die ehrbare Tochter hieß Zofia. Sie kannte die Wälder gut, und die beiden brachten täglich viele Stunden mit Reiten und Schwimmen in den Seen zu.
Auf Allerheiligen folgte eine Periode mit heftigem Regen und starkem Wind, der den Park mit tanzenden Blättern füllte. Juden, die kamen, um Kälber zu kaufen, flüsterten, die Deutschen ständen am Njemen. Andere Berichte bestätigten, was sie alle befürchteten: der Vormarsch wurde fortgesetzt.
Helenas Mutter zitierte alle, Familie wie Bedienstete, in die Eingangshalle. »Die Lastkarren von Druków und Klepawicze müssen nach Osten weiterziehen. Wer immermitfahren will, möge es tun. Ich bleibe für den Augenblick noch hier.«
Dann rezitierte sie das
»Kto się w Opiekę«
, die Anrufung der göttlichen Vorsehung, aus dem 91. Psalm:
. . .er befiehlt seinen Engeln,
dich zu behüten auf all deinen Wegen.
Sie tragen dich auf ihren Händen,
damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt . . .
Am nächsten Tag klopfte ein sehr besorgter Dominiecki an ihre Zimmertür mit der Nachricht, daß ein auf dem Rückzug befindliches russisches Kavallerieregiment die Grenzen des Landguts überschritten habe.
»Die Offiziere sind auf dem Weg hierher, Hrabina, hierher, zum Haus. Was soll ich tun?«
Sie öffnete die Tür. »Sie willkommen heißen, Dominiecki. Sie werden uns Nachrichten bringen.«
»Es sind aber keine Edelleute!«
»Es sind Offiziere.«
»Ja, Pani Hrabina – aber Russen!«
Am späten Nachmittag durchquerte eine Gruppe von sechs Husaren in schwarzglänzenden Stiefeln die Eingangshalle. Helenas Mutter stand steif auf dem untersten Treppenabsatz. Der Oberst, ein ältlicher Moskauer Fürst mit schlaffen Wangen, küßte ihr die Hand. Er begrüßte sie in Pariser Französisch und stellte ihr seine Offiziere vor.
Sie verbrachten den Abend im Salon von Piesków. Als Helena, in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden, sich hineinstahl, sprangen die Husaren auf. Sie baten sie ans Klavier: »Venez, Mademoiselle. On chante les chansons russes!«
Helenas Mutter entspannte sich das erstemal seit Wochen.Sie wies Dominiecki an, aus dem Keller Wodka zu holen. Dominiecki machte ein bedenkliches Gesicht: Russen im Haus war eines, aber ihnen Wodka zu geben, schien ihm sehr unklug.
Am Ende des Abends nahm der Oberst Helenas Mutter beiseite. »Ich möchte Sie dringend bitten, dieses Haus zu verlassen. Ein neuer Angriff steht bevor.«
»Ein Angriff?«
»Die Front ist sehr nah, Comtesse. Es ist eine Frage von Tagen. Sicherer wären Sie in Minsk, noch sicherer in St. Petersburg.«
Am nächsten Morgen brachte Helenas Mutter das ihr anvertraute Häuflein wieder auf den Weg. Der Gutsverwalter schickte seine Töchter mit.
Sie bewältigten die Wege des Landguts nur mit Mühe und gelangten schließlich auf die Straße nach Minsk. Der Schlamm war entsetzlich. Helena hat die Szene beschrieben: russische Soldaten, ihre Troßkarren und Kanonen; viele Verwundete; andere mit nicht mehr als Bastschuhen an den Füßen. Sie erinnerte sich an eine Gruppe von ihnen, die sich gegen die Rückwand einer festgefahrenen
taczanka
stemmten. Sie versuchten, sie freizubekommen, und als Helena vorbeifuhr, sah sie in der
taczanka
einen Mann an ein Maschinengewehr gelehnt sitzen. Er sah sie mit leerem Blick an. Er hatte beide Beine verloren.
Die Tage danach verschwammen
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