Das Haus der Bronskis
ineinander. Helena schrieb:
. . . wie ich nach Petersburg gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich an den ersten Tag, als wir durch die Infanteriekolonne fuhren; ich erinnere mich an die grauen Gesichter und die Kaleschen vom RotenKreuz. Ich erinnere mich an den Schlamm, den Regen und den
dwór
mit einer mit Seide ausgeschlagenen Galerie und aufgerollten Teppichen in der Halle. Ich erinnere mich an die Leiber in jedem Raum und an ein Flüstern: »Nein, Panna, nicht verwundet – Fieber.«
Mehr weiß ich nicht. Drei Tage später waren wir in Minsk. Meine Temperatur war schon am Abend des ersten Tages gestiegen. Tekla sagte, es sei Typhus. Sie schafften es, mich trocken zu halten, und irgendwie erreichten wir Minsk. Wo wir wohnten, weiß ich nicht, aber eines Tages sah Mama zufällig Onkel Nicholas’ Bruder auf der Straße. Er war extra von Petersburg gekommen, um uns zu suchen. Er war ein wunderbarer, freundlicher Mann, damals Priester, und er besorgte uns Plätze in einem Zug nach Petersburg. Keiner glaubte, daß ich die Reise überleben würde. Der Zug war vollgestopft mit Hunderten von Flüchtlingen wie uns, überall lagen Kranke, und viele starben. Der Zug hielt jeden Morgen, damit die Toten weggeschafft werden konnten. Unter den Leuten im Zug war ein berühmter Chirurg, ein Freund von unserem Onkel, dem Priester. Mama erzählte, daß er während dieser Reise jeden Tag kam, mich untersuchte und mir Medizin gab. Der Mann hat mir das Leben gerettet.
10.
H elena verbrachte
die nächsten zwei Jahre überwiegend in Petersburg. Über diese Zeit schrieb sie später: »In vielerlei Hinsicht waren dies die glücklichsten Jahre meines Lebens. Ich wurde in Petersburg volljährig, gerade als die Stadt selbst im Chaos versank. Ich hatte nie zuvor solche Pracht gesehen, noch habe ich es seither . . .«
Sie war siebzehn, als sie ankam, naiv, zurückhaltend, die Wälder der Kresy gewöhnt und das provinzielle Leben in Wilna. Die Fotografien von ihr aus dieser Zeit sind alle verlorengegangen, aber in ihren nachträglich geschriebenen Petersburger Aufzeichnungen hat sie sich in Tinte porträtiert, so, wie sie sich in Erinnerung hatte, ein Mädchen im Pelz, mit Pelzmuff und Pelzhut, ein Mädchen von aufrechter Haltung und schlichter Eleganz.
In Petersburg ließ sie sich das Haar kurz schneiden – so, daß es bis zum Nacken reichte –, und diese Frisur behielt sie während ihres gesamten Erwachsenenalters bei. Sie schrieb, sie habe gelernt, »Kleider richtig zu tragen«, indem sie matte Farbtöne und die »klassische Linie« wählte, die ihr Vater sich gewünscht hatte. Es ist klar, daß sie bereits schön war, ebenso klar, daß sie gewöhnlich nicht darauf achtete, welchen Eindruck sie machte – bis es zu spät war. Noch immer geschahen ihr die Dinge. Doch Petersburg öffnete ihr die Augen.
Onkel Augustus – Onkel Priester – fand eine Wohnung für sie in einem Mietshaus unweit der Uliza Pestelja. Die getäfelten Wände waren tief burgunderrot lackiert, der sonstigeAnstrich war weiß, und die Wohnung war sehr klein – vier Zimmer für Helena, ihre Mutter, ihre Schwester, die Töchter des Gutsverwalters, Panna Konstancja und Tekla, die in einer Besenkammer neben der Küche schliefen.
Helena teilte sich ein Zimmer mit ihrer Schwester. Das Fenster ging auf einen schmutzigen Hof hinaus. Nachts füllte sich der Hof mit Katzen, die in der Dunkelheit kämpften und gellend schrien. Tagsüber sickerte diffuses Licht in den kaminähnlichen hohen Schacht. In den ersten Monaten war Helena krank; sie verließ kaum das Zimmer. Von ihrem Bett aus sah sie den Schneeflocken zu, die in spiraligen Windungen vom grauen Himmel herabschwebten. Die Tage verrannen und schrumpften zusammen. Der Arzt kam mit Stärkungsmitteln aus Mandelsaft. Einen Großteil der Zeit schlief sie.
Weihnachten 1915 betrat Onkel Augustus die Wohnung mit einem kleinen chinesischen Singvogel in einem Käfig. Der Vogel hatte weißes Gefieder und einen roten Schnabel. Onkel Augustus hängte ihn in Helenas Zimmer auf, und Helena taufte ihn Liki. Anderthalb Jahre trillerte Liki in seinem Messingkäfig am Fenster. Er hüpfte zwischen seinen Sitzstangen hin und her; er pickte nach den Sonnenblumenkernen, mit denen Helena ihn fütterte. Dann kam die Revolution, und Liki verschwand. Sie konnte nie wieder Zeisiggesang hören, ohne an drei Dinge zu denken: den Kulissenglanz von Petersburg, das Geschrei der kämpfenden Katzen und den
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