Das Haus der Bronskis
Anblick ihres Vaters, der sich an der Ecke des Newskij Prospekts auf einen Stock mit Elfenbeingriff stützte.
Mit dem neuen Jahr kam Helena zu Kräften. Sie konnte gekochtes Gemüse essen und dann und wann Hering. Der Arzt setzte den Mandelsaft ab und ging zu einer speziellenButter über, die ihm direkt aus Zentralrußland geliefert wurde.
Die letzten Januartage 1916 brachten einen frostigen Himmel und eine Reihe von polnischen Emigrantinnen in die Wohnung. Sie trugen Zobelpelze und dicke Juwelen, um sich für den Verlust ihrer Besitzungen zu entschädigen. Ihre Männer waren entweder im Krieg oder schon tot. Sie waren außerstande, ihr Unbehagen angesichts der kleinen Räume der O’Breifnes zu verbergen, stellten lauernd Fragen nach Essen, Wäsche und Dienstboten, und beugten sich bei Helena zur Tür herein, um sie zu begutachten.
Eine dieser Frauen war Pani Józefina Pawełowska, laut Helena »eine berühmte Schönheit«. Eines Tages erschien sie in einem knöchellangen Silberzobel. Sie blieb einen Augenblick an Helenas Bett stehen, die Hände ausgestreckt und die Augen halb geschlossen.
»Blau – ich sehe eine blaue Aura um dich!«
Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander und zog an den Fingern ihrer schwarzen Handschuhe. »Ich habe von deiner Mutter einiges über dich gehört. Aber sie hat nicht gesagt, wie schön du bist. Niederträchtiges Weib! Hast du erst wieder ein bißchen Fleisch auf den Knochen, wirst du außergewöhnlich hübsch sein. Helenka, ich glaube, ich liebe dich schon! Versprich mir zu schreiben, wenn es dir besser geht, und ich schicke dir meinen Kutscher.«
Anfang Februar war Helena fast gänzlich wiederhergestellt. Jedesmal, wenn der Arzt mit seinem Musselinbeutelchen Butter ankam, bat sie ihn, sie nach draußen gehen zu lassen. Eines Februartages drehte der Arzt sich zu ihrer Mutter um und sagte: »Ça va! La jeune fille va bien.«
Eine Woche später hielt ein Schlitten im Hof und brachte Helena ins Pawłowskische Haus an der Moika. Sie stieg aus und betrachtete das Gebäude. Es war eher einkleines Palais als ein Haus. Die Mauern waren blaßgrün, mit einer strengen Reihe kannelierter Pilaster zwischen den Fenstern. Eine große Kuppel, patiniert und voll Vogeldreck, krönte das Ganze.
Pani Józefina war in ihrem smaragdgrünen Boudoir mit Näharbeiten beschäftigt.
»Hela«, sie stand auf und küßte sie, »du siehst hundertmal besser aus.«
»Vielen Dank, Pani Józefina –«
»Aber nein! Für dich bin ich Tante Ziuta.«
»Ja, Tante Ziuta.« Helena ließ sich auf einem Rohrstuhl nieder.
»Fühlst du dich besser?«
Helena nickte.
Tante Ziuta lächelte ihr furchterregendes Beinahelächeln. Sie trug ein weißes Seidenoberteil und einen grauen Faltenrock. Alles an ihr wirkte frisch und elegant; sie sprach bestes Warschauer Polnisch und war es nicht gewohnt, unterbrochen zu werden.
»Also, jetzt möchte ich alles über dich wissen. Ich denke mir, daß du vom Leben nicht die geringste Ahnung hast. Deine Mutter! Ich nehme an, sie hat dir ein paar gute Gebete beigebracht und dir gesagt, du sollst dich vor Männern in acht nehmen. Hab’ ich recht?«
Helena nickte.
»Nun ja, da du nun einmal hier in Petersburg bist, nehme ich dich unter meine Fittiche. Du wirst Teil meiner Familie sein. Mit mir wirst du das Leben kennenlernen.« Diesem letzten Wort verlieh sie eine eigenartige, zweideutige Betonung. Dann lächelte sie. »Und als Gegenleistung brauche ich deine Hilfe.«
»Hilfe, Tante Ziuta?«
Diese lächelte und fuhr sich mit der Hand über ihrenSchwanenhals. »Du wirst erfahren, Hela, daß es für mich nur eins gibt, für das sich zu leben lohnt, und das ist die Musik. Mein ältester Sohn hat eine Engelsstimme, einen Baß, der einem das Herz brechen kann. Er ist einsfünfundneunzig und macht mich ziemlich wahnsinnig. Er meint, er sei Sozialist. Er spaziert durch sämtliche Fabriken seines Vaters und predigt den Arbeitern. Sie halten ihn alle für verrückt. Er singt jetzt nicht mehr. Unsere Musikabende waren berühmt, aber jetzt hat er keine Zeit dafür. Und hier kommst du ins Spiel – verstehst du?«
Helena schüttelte den Kopf.
»Natürlich nicht – du hast keine Ahnung von Männern. Aber ich garantiere dir, wenn du anfängst, uns zu besuchen, wird er zu Hause bleiben, dich anstarren und sich heiser singen.
Der Rest meiner Familie ist uninteressant. Bei meinem Mann dreht sich alles immer nur ums Geschäft, Geschäft, Geschäft. Vermutlich wirst du
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