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Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Marsden
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meinen jüngeren Sohn Florian mit seinen großen Kalbsaugen recht gutaussehend finden. Aber er vergeudet seine Zeit mit naturwissenschaftlichen Büchern. Er hat überhaupt kein musikalisches Gehör.«
     
    »Hela,
kochana
!« begrüßte Tante Ziuta Helena bei ihrem zweiten Besuch. Sie führte Helena durch eine Zimmerflucht voller Blumenarrangements in eine Bibliothek und einen langgestreckten Ballsaal. Am äußeren Ende dieser höhlenartigen Räume befand sich ein Arbeitszimmer. Dort, über einen Eichenschreibtisch gekrümmt, residierte der große Pan Pawłowski.
    Als Tante Ziuta diesen Mann heiratete, wurde das in Warschauer Kreisen mehrheitlich als
mésalliance
betrachtet. Er hatte, wie Helena berichtete, ein schroffes Benehmen,war untersetzt und in seinen Gewohnheiten ziemlich animalisch. Es hieß, sein Großvater sei ein Posener Bauer gewesen. Doch er erwies sich als glänzender Finanzier und baute eine Reihe russischer Fabriken auf. Er häufte ein Vermögen an. In Petersburg fand man sich mit seinen weniger feinen Machenschaften ab: »Ce cher Pawłowski est tellement original. C’est un original   – enfin!« Und Gesandte wie bakkenbärtige Aristokraten kamen, um in seinen tiefen Sesseln und Sofas Vertraulichkeiten auszutauschen.
    Als Helena sein Arbeitszimmer betrat, erhob Pan Paw / lowski sich und ergriff ihre Hände. Er sah sie durchdringend an und sagte: »Du besitzt große Schönheit, mein Kind. Was hast du damit vor?«
    »Ich möchte an der Universität studieren.«
    Er schüttelte den Kopf und lachte. »Nein, nein, doch das nicht. Mädchen wie du gehen nicht auf die Universität!«
    Helena sagte nichts.
    Später lernte sie seine zwei Söhne kennen. Sie gaben ein seltsames Paar ab. Der eine, Waldemar, war groß, dunkelhaarig, verbeugte sich, als sie ihm die Hand reichte; der andere, Florian, war über einen Kopf kleiner, mit riesigen grauen Augen, mit denen er sie auf eine verstörende Art und Weise anstarrte.
    In jenem Frühjahr fand Helena ihr Leben beherrscht von der dominierenden Figur Tante Ziutas. Sie verbrachte sehr viel Zeit im Haus der Pawłowskis. Sie wurde zu allen Musikabenden eingeladen, und tatsächlich begann Waldemar weniger Zeit für Politik zu haben und mehr fürs Singen.
    Manchmal holte Tante Ziuta Helena in der Nachmittagsdämmerung ab und machte mit ihr eine Fahrt durch die Stadt, zunächst im Schlitten und dann, im März, in einer alten und allzu reich verzierten Kutsche. Die Sonneduckte sich am Horizont; Petersburg ruhte auf seinem Morast. Es schwamm wie ein Schiff, und seine orangeroten, zitronengelben und limonengrünen Fassaden und Zuckergußkuppeln kamen Helena vor, als wären sie nichts als Akteure in irgendeinem bizarren Kostümstück.
    Das ist das Leben, dachte sie. Das war, was Tante Ziuta gemeint hatte. Sie hatte bis dahin nur Wilna, Krakau und Warschau gekannt, aber Petersburg und seine Menschen schienen auf einer anderen Stufe zu stehen. In ihrem Kopf verbanden sich die Stadt und die Pawłowskis: Petersburg war so anziehend und so herzlos wie Tante Ziuta.
    Sie sahen die Wachen im Paradeschritt vor dem Winterpalast auf- und abmarschieren; sie sahen Peter den Großen auf seinem sich aufbäumenden Bronzeroß. Tante Ziuta hatte lebhafte Ansichten über die russische Geschichte und erzählte Helena die interessantesten Anekdoten und Skandale. Sie führte sie durch die hellerleuchteten Geschäfte am Sabalkanskij Prospekt; sie kauften Pralinen und probierten Hüte, Pelze und Schuhe. Auf dem Trottoir des Newskij Prospekts zeigte Tante Ziuta ihr die Botschaftergattinnen, die Generäle, die Dumasozialisten. Einmal erhaschten sie einen Blick auf Rasputin, als er aus einer Kutsche torkelte.
    Ende Februar lud Tante Ziuta Helena und ihre Mutter zu einer Galavorstellung von
Schwanensee
im Marientheater ein. Der Abend war eisig kalt. An allen Ecken häuften sich Schneeverwehungen. Alles schien dem Theatereingang zuzustreben. Koslinskij, ein Günstling des Zaren, tanzte die männliche Hauptrolle.
    Helena hatte keine Erinnerung an das Ballett selbst   – nur an einen Halbkreis von Fürsten und Großfürsten in weißer Gardeuniform auf dem roten Teppich im Foyer. Daß Zar Nikolaj II. höchstpersönlich in dessen Mitte stand,nahm sie kaum wahr. Seine Würdenträger überragten ihn. Sie glichen Unsterblichen, einem ordengeschmückten Pantheon, Wesen aus einer anderen Welt. Unter ihnen befand sich auch Fürst Jussupow (der später Rasputin ermordete), und sein Anblick war es, den sie im

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