Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Marsden
Vom Netzwerk:
verbrachte Helena noch mehrZeit bei den Pawłowskis. Zunächst lähmte der Tod den Haushalt. Maria, die junge Tochter, aß kaum und fiel häufig auf einem der vielen Chintzsofas im Haus in Ohnmacht. Florian ging mit großen Schritten im Ballsaal auf und ab und hielt sich den Kopf. Tante Ziuta empfing niemanden. Sie saß aufrecht am Klavier und erfüllte das Haus mit dem Bom-bom-bom von Chopins
Marche funèbre
.
    Inzwischen hatte Waldemar dem Sozialismus abgeschworen. Er bestellte die Leiter der väterlichen Fabriken einzeln zu sich und teilte ihnen mit, daß er die Nachfolge angetreten habe. Florian übernahm von ihm die Rolle des Hauptverehrers von Helena, und wenn er nicht gerade Kladden mit mathematischen Notizen füllte, verfolgte er jede ihrer Bewegungen mit seinen großen Kuhaugen.
    Mitte Mai traf sie eines Nachmittags im Pawłowskischen Haus ein und fand Tante Ziuta Schuberts
Impromptus
spielend vor. Der Witwenflor war fort, sie trug ein gelbes Kleid. Die Sonne schien strahlend zu den geöffneten Fenstern herein; Glyzinienranken hingen von den Mauern.
    Tante Ziuta stand auf und lächelte. »Waldemar ist bereit, heute abend zu singen, und ein fabelhafter Freund von ihm, ein Geiger, ist gerade aus Moskau eingetroffen.«
    Pan Pawłowski, schrieb Helena, wurde nie wieder erwähnt.
    Der Geiger erwies sich als Helenas Vetter Andrzej Mostowski. Sie hatte ihn zuletzt in Wilna gesehen, wo er bei den Tanzstunden ihren Aufpasser gespielt hatte. Er trug ein dünnes Schnurrbärtchen und wartete darauf, in die Armee einzutreten. Sie war außer sich vor Freude, ihn wiederzusehen.
    Für Andrzej hatte Helena sich verändert. »All dies Gerenne durch den Wald hat eine Frau aus dir werden lassen!« neckte er sie.
    »Unsinn, Andrzej!«
    »Nein, es ist wahr.«
    Und sie wußte, daß er recht hatte. In den warmen Monaten, die nun folgten, spürte sie in sich ein sonderbares Wohlgefühl. Sie bewegte sich in jenen großen Räumen an der Moika und nahm dabei die Dragoner und ihre rudelweisen Aufmerksamkeiten ebenso auf die leichte Schulter wie die lüsternen Großgrundbesitzer und begehrlichen Industriellen; sie tanzte und diskutierte, hörte Erstaunliches über das bäuerliche Rußland, über den Krieg, über Leute mit Namen aus Geschichtsbüchern. Sie lernte ein wenig Unbekümmertheit.
    Und wenn sie diese Abende auf den gemächlichen Heimfahrten entlang der Newa unter dem taghellen Nachthimmel überdachte und alle Vorurteile und Falschheiten in Tante Ziutas Zirkel deutlich erkannte, wußte sie, daß Andrzej recht hatte.
    Doch was sie selbst betraf, war sie nach ihrem eigenen Dafürhalten noch immer der reinste Grünschnabel.
    Eines Sonntagnachmittags, erinnerte sie sich, saß sie im Pawłowskischen Salon mit Lex Gintze, einem jungen estnischen Baron lutherischen Glaubens. Lex spielte Klavier. Helena dachte an fernliegende Dinge.
    Plötzlich nahm Lex die Finger von den Tasten und drehte sich zu ihr um. »Panna Helena!«
    »Ja.«
    »Sie haben schöne Füße!«
    »Was . . .«
    »Bildschöne Füße, Hela!«
    »Was für ein Schwachsinn, Lex! Wie können Füße schön sein?«
    Doch binnen eines Monats gab Lex bekannt, er wolle sie heiraten, und versprach, katholisch zu werden. Helena warentgeistert. Ihre Mutter ließ ihn höflich wissen, er möge warten, und nahm Helena beiseite, um sie dafür zu strafen, daß sie ihn ermutigt hatte.
    Unterdessen kamen gute Nachrichten vom Krieg. An der polnischen Front hatte Brussilow es geschafft, die deutschen Linien zu durchbrechen, und ein paar Wochen lang ließ das Murren nach.
    Ihren Vetter Andrzej sah Helena oft. Sie trafen sich bei den Musikabenden der Pawłowskis, die den Sommer über fortgeführt wurden.
    Florian war jetzt anhänglicher denn je, zog Helena von der Musik fort, in die Bibliothek, wo er Diagramme von den Planeten zeichnete oder ihr erklärte, wie die Bäume sich mit Nährstoffen versorgten. Wenn Waldemar zu Ende gesungen hatte, kam er aus dem Ballsaal und rüffelte seinen Bruder: »Ach, Florian, hör doch auf, die arme Helena zu belästigen! Sie interessiert sich einfach nicht für deine gräßliche Naturwissenschaft!«
    Er setzte sich dann ebenfalls neben sie und erzählte ihr von der Gefahr der Arbeiterbünde, von den Verbesserungen, die er für die Tischlerwerkstätten oder eine Rüstungsfabrik erdacht, und von den Einsparungen, die er erzielt hatte.
    Andrzej war ihr einziger Lichtblick. Er kam herein, legte die Geige hin und gab dann eine perfekte Nachahmung der Gäste zum

Weitere Kostenlose Bücher