Das Haus der Bronskis
vorhersehen.
Der Priester sagte ruhig: »Entweder wir geben uns auf oder . . .« Er machte eine Pause.
»Oder was?«
»Oder wir vertrauen auf Gott und steuern Litauen an.«
Helena brauchte keine Sekunde, um eine Entscheidung zu fällen.
Dabei wußten beide, daß Litauen seine Grenzen bereits geschlossen hatte.
Vater Jarosław war ein Mann von Prophetenstatur. Seine Gliedmaßen hatten eine merkwürdig langgezogene Anmut, und er bewegte sie langsam. Helena fand seine Gegenwart zutiefst beruhigend. Neben ihm auf dem Karren lag die Monstranz aus seiner Kirche.
Es war später Nachmittag, als sie den Rand des nächsten Dorfs erreichten. Eine Frau, die den Geistlichen sah, lud sie in ihr Haus ein, versorgte sie mit Tee, Wodka, Brot und Salz und mit Futter für die Pferde. Sie umklammerte die Hand des Priesters. »Beten Sie für uns alle, Ehrwürden; das letztemal haben die Bolschewisten meinen Sohn mitgenommen, sie haben ihn mitgenommen, und ich habe ihn nie wiedergesehen.«
Plötzlich flackerten die Kerzen, und im Eingang stand der Ehemann der Frau. Er hielt drohend eine alte Flinte. »Haut ab!« schrie er. »Weg mit euch! Wir wollen nicht euretwegen abgeschlachtet werden!«
Sie gingen und fuhren weiter, wieder in den Wald. Sie fuhren die meiste Zeit an jenem Abend. Manchmal war über ihnen ein Flugzeug, und sie hörten, wie Bomben abgeworfen wurden. Bei Anbruch der Dämmerung verdichtete sich die Luft, der Sturm kam schnell und brachte Böen mit sich, die den Straßensand hoch aufwirbelten. Die Pferde husteten und warfen die Köpfe in den Nacken. Dann begann es zu regnen.
»Wir müssen einen Unterschlupf finden, Vater Jaros / law«, rief Helena laut. »Die Pferde können nicht mehr.«
Vater Jarosław kannte einen Hufschmied, einen breitenMann in Schaffellweste mit gerötetem Gesicht und zahnlosem Lächeln, der in einer Waldhütte lebte. Er umfing den Geistlichen mit einer großen Schaffellumarmung und sagte, er werde alles tun, um ihnen zu helfen.
»Aber ich muß Ihnen sagen, Vater«, fügte er hinzu, »daß sie schon in Lida sind. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
Er hatte keine Ställe, dieser Schmied, und so deckten sie die Pferde mit Fellen zu, nahmen ihnen die Trense heraus und luden haufenweise Klee vor ihnen ab. Beim Fressen dampften ihre Flanken.
Im Haus des Schmieds saßen zwei rußgesichtige Kinder an der Feuerstelle. Eins von ihnen stach mit einer Gabel nach einem Nahrung suchenden Huhn. Helena setzte sich an den Tisch, zusammen mit dem Geistlichen, der im Halbdunkel lächelte und ihr erzählte, er habe an diesem Tag »das Siegel auf ihren Stirnen« gesehen: das Siegel, das in der Offenbarung die Stirnen derer kennzeichnete, die zu überleben bestimmt waren, wenn Gott die Furien auf die Erde losließ.
Es schüttete. Der Regen schlug auf das Strohdach und machte ein zischendes Geräusch auf dem blanken Boden draußen vor der Tür. Helena schlief ein. Ihr Kopf ruhte auf dem Tisch. Der Priester und der Schmied führten eine Unterhaltung weiter, deren gedämpfte Töne plätschernd gegen das Hinterland ihres Schlafs anschlugen.
Es war noch dunkel, als Vater Jarosław sie an der Schulter rüttelte. »Schnell, Pani Helena! Auf der Hauptstraße sind Panzer!«
Noch halb im Schlaf stand sie auf und weckte die Kinder; sie hörte in der Ferne das tiefe Brummen, ein Geräusch, das aus der Erde zu kommen schien. Gott imHimmel, dachte sie, wir schaffen es nie, und sie tastete erneut in ihrer Tasche nach dem Giftfläschchen.
Es regnete noch immer. Sie schirrten die Pferde wieder an und schlugen einen Waldweg hinter der Hütte ein. Den ganzen Tag fuhren sie durch den Wald. Sie machten Umwege, mal Richtung Norden, mal Richtung Westen, mieden die Hauptstraßen und Dörfer. Aber gelegentlich war das nicht möglich, und am frühen Nachmittag waren sie gezwungen, für eine kurze Strecke auf der Straße zu fahren. Nach einer Weile näherte sich ihnen von Süden ein Auto, ein schwarzer Chevrolet.
Helenas Sorge wuchs, während es immer näher kam. Als es mit ihnen auf gleicher Höhe war, hielt es an, und Helena sah durch das Fenster das Gesicht eines älteren Mannes, käsebleich, angstverzerrt: es war ein direkter Vetter ihrer Mutter, der von seinem Gut bei Lida floh. Sie drängte ihn, sie mitzunehmen.
Er schaute sie hilflos an. Seine Frau beugte sich über den Sitz . »Hela, bitte! Du siehst doch, daß wir keinen Platz haben!«
Ihr Mann warf verzweifelt die Hände hoch. »Sinnlos! Sinnlos! Niemand von uns
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