Das Haus der Bronskis
kommt durch!« Und er legte knirschend den Gang wieder ein und fuhr weiter.
An dem Abend leitete Vater Jarosław sie zu einem Priesterkollegium in einer überwiegend polnischen Kleinstadt. Die Geistlichen waren geflohen. Die Hausmeistersleute sagten, die Russen seien noch ein ganzes Stück entfernt, sie zögen derzeit mehr nord- als westwärts.
Am Morgen breitete Vater Jarosław die Landkarte auf einem großen Eichentisch in der Diele aus. Die litauische Grenze war noch immer gut neunzig Kilometer entfernt. Unmöglich, sie vor Einbruch der Nacht zu erreichen. Siebeschlossen statt dessen, einen
dwór
namens Antoków anzupeilen; wie sie gehört hatten, sollten sich dort bereits polnische Flüchtlinge aufhalten.
Sie kamen stetig voran. Doch die Pferde wurden langsamer. Sie schleppten ihre Füße durch den Schlamm, nickten kraftlos, wenn sie sich mühten, die Wagen über den unebenen Grund zu ziehen. Erst im Lauf des Nachmittags gelangten sie zu einem Fluß, der nach dem Regen viel Wasser führte. Die Tiere neigten die Köpfe und tranken, und Helena bückte sich, um ihnen den Schweiß von den Flanken zu waschen.
Als sie wieder aufblickte, stand eine Gruppe von vier Soldaten vor ihr auf dem Weg, die Gewehre im Anschlag. Noch mehr Männer stürzten zwischen den Bäumen hervor, und ein Offizier trat auf sie zu. Sie trugen polnische Uniform.
Helena faßte sich mit der Hand an die Brust. »O Gott sei Dank! Ich dachte, Sie wären Russen!«
»Sie müssen uns Ihre Pferde geben«, sagte der Offizier. »Die Armee braucht Ihre Pferde.«
»Wenn Sie uns die Pferde nehmen, Major, sind wir so gut wie tot.«
Sie sah, daß der Mann Angst hatte. »Lassen Sie uns die Pferde«, sagte sie.
Er trat beiseite und ließ sie passieren.
Es war dunkel, als sie in Antoków ankamen. Es waren viele Flüchtlinge da, größtenteils Landbesitzer. Alles schlief. Helena ging in die Küche, um etwas zu essen herzurichten. Zofia stöberte unter den Vorräten ein paar Kaffeebohnen auf. Sie goß Wasser auf die Bohnen und erhitzte die Mischung in der Küche. Sie begriff nicht, warum es nicht funktionierte. Ihre Mutter ebensowenig. Beide hatten sie nicht die geringste Ahnung, wie man Kaffee machte.
»Da siehst du, wie wir verhungern würden, wenn wir unter den Bolschewisten leben müßten, ohne Personal!« sagte Helena und lachte.
In den Zimmern im Obergeschoß schliefen die Flüchtlinge. Irgendwo fanden die Brońskis eine Ecke und breiteten ihre Decken aus. Das Zimmer hatte keine Vorhänge, und der Mond schien auf die schlafenden Gestalten wie auf eine Hügelkette. Helena blieb lange wach. Sie versuchte sich die litauische Grenze vorzustellen, den Schlagbaum, der vor ihr hochging, und die Posten, die sie durchließen. Sie konnte es nicht. Sie starrte zu den Sternen hinauf und betete.
Kurz nach dem Morgengrauen erreichte den
dwór
die Nachricht, daß die Russen anrückten. Diejenigen, die Autos hatten, brachen nach Wilna auf, das noch nicht gefallen war. Die Fuhrwerke aus Mantuski waren zu langsam für den Konvoi; Helena wußte, daß sie den Weg zur Grenze allein fortsetzen mußte.
Es gab aber auch ein oder zwei Familien, die nicht weg wollten, die der offenen Straße nicht trauten und meinten, sich den Russen in Würde zu ergeben, sei für sie das Günstigste. Vater Jarosław blieb bei ihnen. Als die Brońskis abfuhren, standen sie verlegen auf der Terrasse und beteten mit Vater Jarosław. Die Familien bildeten kleine Grüppchen um ihn, die Hände gefaltet, aufrecht und elegant in Breeches und Krawatten, in Wollröcken und Spitzenkragen, in all ihrer zum Untergang verurteilten Förmlichkeit.
Auf den Straßen war an diesem Morgen mehr Verkehr, ein Gewimmel von Fuhrwerken und führerlosen Truppen. Der Kampflärm war nahe, das Granatfeuer unablässig. An einer Stelle standen ein paar Soldaten ungeordnet am Straßenrand, zu viert, mit nur einem Gewehr für sie alle.
Helena fuhr langsam vorbei. »Was ist?«
Die Soldaten drehten sich um und sahen sie an. Sie sagten nichts, sondern traten zurück, um den Blick freizugeben. Der Leichnam eines Offiziers lag gekrümmt im Gras; er hielt noch immer den Dienstrevolver umklammert, der auf seine Wange gerichtet war, doch die Wange war fort. Helena packte eisiges Entsetzen: es war der Major, der erst am Tag zuvor die Pferde von ihr verlangt hatte.
Sie schnalzte mit den Zügeln und fuhr weiter, bevor die anderen die Möglichkeit hatten, etwas zu sehen.
Kurz danach erreichten sie die Grenzstadt Orany.
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