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Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Marsden
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Sie war kaum mehr als eine erweiterte Hauptstraße, mit einer Reihe junger Linden bepflanzt. In der Stadt herrschte Chaos. Soldaten und Polizisten rannten hin und her. Aus einer der Nebenstraßen tönten Gewehrschüsse; Rauchfahnen stiegen von Gebäuden auf; die windstille Luft wurde von fernen Explosionen erschüttert. Die Russen waren noch nicht in der Stadt, aber die Kämpfe hatten begonnen.
    Sie fuhren weiter. Hinter der Stadt ließ der Geschützlärm nach, und sie fielen in Schritt. Sie waren alle erschöpft. Eins der Pferde an Zofias Wagen hatte eine offene Stelle an der Schulter, wo der Deichselarm scheuerte; das Tier schwankte inzwischen bei jedem Schritt.
    Die Straße fiel jetzt steil in eine Schlucht ab. Auf deren Grund floß die Mareczanka, die die Grenze darstellte. Sie konnten die Brücke und den Grenzposten dahinter erkennen. Eine Gruppe litauischer Grenzwachen stand oberhalb der Brückenmauer. Auf der polnischen Seite war niemand.
    Helena ließ die Wagen halten. Sie holte ein paar zaristische Goldmünzen heraus. In gleichmäßigen Großbuchstaben schrieb sie eine Nachricht:
     
    DRINGEND   – BITTE TELEGRAPHIEREN SIE
    AN HRABINA O’BREIFNE, KAUNAS:
    »WARTEN GRENZE ORANY
    LEBENSGEFAHR
    ERBITTEN SOFORTIGE EINREISE
    HELENA BROŃSKA + KINDER«
     
    Sie ließ die Fuhrwerke und die Kinder zurück und ging allein über die Brücke, dabei trat sie aus dem Schatten der Schlucht in die Sonne. Hinter den Wachen erspähte sie eine geschäftige kleine Siedlung. Zwei oder drei Ochsen standen unter einer ausladenden Eiche, und Dorfbewohner und Soldaten hielten sich in ihrer Nähe auf.
    Helena lächelte die Wachen an, während sie auf sie zuging. Einer richtete ruckartig sein Gewehr auf sie, um sie zurückzudrängen. Doch sie wich nicht von der Stelle. Aus dem Wachhaus trat ein bärtiger Offizier. Eine Haartolle stand ihm an einer Seite vom Kopf ab, den er sich geräuschvoll kratzte. Er gähnte.
    »Bitte, Major, ich habe ein dringendes Telegramm. Bitte schicken Sie es.«
    Der Offizier schaute sie an und lächelte dann träge. »Nein.«
    Doch sie hörte ihn nur mit halbem Ohr. Über seine Schulter hinweg hatte sie einen Mann aus der Siedlung erblickt, der an der Brücke stehengeblieben war und die Szene beobachtete   – ein junger Priester. Ohne nachzudenken, drängte Helena sich an den Wachtposten vorbei. Sie hörte die Soldaten rufen, hörte das Geräusch ihrer Stiefel auf dem Kies. Sie erreichte den Priester, drückte ihm die Nachricht und die Münzen in die Hand und flüsterte: »In Gottes Namen, Vater, schicken Sie dieses Telegramm!«
    Sie spürte, wie die Wachen sie am Arm packten. Sie schüttelte sie ab, wandte sich zurück und ging mit raschenSchritten vor ihnen her. »Danke, Major«, sagte sie, als sie an dem Offizier vorbeikam.
    Sie langte wieder bei den anderen an. Keiner sagte irgend etwas über das Artilleriefeuer und die Granateinschläge, die immer näher rückten. Sie fuhren aus dem Tal hinaus, wieder die Hauptstraße entlang, bis sie zu einer Gruppe von zwei, drei kleinen Holzhäusern kamen. Das Gelände wimmelte von Flüchtlingen. Drei alte Männer saßen im Schatten; einer von ihnen trommelte gegen seine Stiefel, die anderen glotzten in die Baumkronen hinauf. Auf den im Freien aufgestellten Holzbänken saßen Frauen, die Kohl putzten und Hühnchen rupften.
    Helena sprang von ihrem Wagen herunter und sprach einen der älteren Männer an, einen Polen.
    »Können wir hier warten?« fragte sie.
    »Haben Sie Salz?«
    Sie nahm einen großen Block Salz herunter und sagte, sie hätten auch Kaffee und Kognak und etwas Geld . . .
    »Geld!« höhnte er. »Wozu braucht man jetzt noch Geld?«
    Aber er deutete auf eines der Häuser, und sie fanden dort einen Platz zum Schlafen. Sie gingen wieder hinaus, um sich etwas zu essen zu machen.
    »Und was passiert jetzt, Mama?« fragte Zofia.
    »Deine Großmutter wird zu Präsident Smetona gehen.«
    »Und warum sollte der uns helfen?«
    Helena lächelte. »In seiner Jugend ist der Präsident Hütejunge auf ihrem Gut gewesen. Sie hat seine Erziehung bezahlt, und nun würde er alles für sie tun.«
    Aber Helena selbst war voller Zweifel.
    In der Nacht klang das Granatfeuer ab. Zu den Flüchtlingen drang die Nachricht, daß den ganzen Tag über eine Schlacht Richtung Osten nahe der Eisenbahnlinie stattgefundenhatte und daß die Russen sie nunmehr unter Kontrolle hatten. Am Morgen würden sie, wie jeder wußte, den Vormarsch fortsetzen.
    Sie konnten nichts tun. Helena

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