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Das Haus der glücklichen Alten

Das Haus der glücklichen Alten

Titel: Das Haus der glücklichen Alten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valter Hugo Mae
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so einschränken mussten. Mein Tischnachbar war Doktor Bernardo. Er saß vor mir wie ein frischgebadeter Engel, der mich mit Zuckerwattewolken und im Wind zerstiebenden Vogelschwärmen beschenkte. Ich lächelte. Ich kam mir vor wie ein Vollidiot, aber ich lächelte. Das gehört zur Kultur, zu dieser erstarrten Kultur, die alle unsere Absichten verhüllt.
    In dieser Zeit hatte ich keine Arme und Beine, keine Augen, und ich verlor die Stimme, ich hatte kein bisschen Herz für jemanden übrig und kapselte mich ab. Ich verstand offenkundig, was man zu mir sagte, und ich hätte aufmerksam und respektvoll auf einige Aufforderungen reagieren können, doch wegen meiner Einsilbigkeit begann man gar nicht erst, ein Gespräch mit mir anzuknüpfen. Meine Stimme war versunken in die Feuchtigkeit meiner Eingeweide, und es gab keine Möglichkeit, sie auf der Höhe des Atems zu trocknen. Was mir jedoch Senhor Pereira an diesem ersten Abend sagte, ist bis heute prägend für meine Sicht auf das Heim. Er kam zu mir, buchstabierte seinen Namen und hieß mich willkommen. Dann merkte er, dass ich mich nicht zu einem einzigen Wort herablassen wollte, und verstand. Er sagte nur noch, manchmal gebe es eben auch solche wie mich. Erst wollen sie keinerlei Freundschaften schließen, aber mit der Zeit beginnen auch sie zu reden und Zuneigung für die anderen zu empfinden. Wegen meines grausamen Schweigens sagte er dann, wir dürfen uns nicht einmal über Ihre Ankunft freuen, sie ist nämlich die endgültige Bestätigung, dass Dona Lurdes tot ist, und sie war ein guter Mensch gewesen.
    Das Haus kann nur dreiundsiebzig Personen aufnehmen, und damit eine neue reinkommt, muss eine andere raus. Der Abgang war schmerzlich, geschah aber kurz und bündig. Ein paar Alte werden aus den Zimmern geschoben. Ein Bettlägeriger kommt vielleicht in den linken Flügel, schon ganz nahe bei den Toten, und ein anderer bezieht das leer gewordene Zimmer mit Blick auf den Garten. Oft kommt es auch vor, dass die Überlebenden vor den Zimmertüren stehen und weinen, weil sie wissen, dass die früheren Bewohner nicht mehr drin sind. Oder es kommt vor, dass jemand den neuen Gast in den ersten Wochen zurückweist, als hätte sein dringendes Verlangen, hier einzuziehen, die kosmischen Kräfte veranlasst, dem anderen schnell das Leben zu nehmen, so als läge die Schuld beim Neuen. Ich war der lebendige Beweis für den Tod Dona Lurdes’, der beim Fest in der Johannisnacht während des Feuerwerks vor Schreck das Herz stehengeblieben ist, als sie schrie, Hilfe, sie machen die Haustür kaputt. Die Spaßmacher der Johannisnacht liefen den Berg hoch und runter, und das Haus stand da, mitten im Festgetümmel, mit den Alten, die weitererzählten, unsere liebe Dona Lurdes ist gestorben, die Schwester hat zu Américo gesagt, Dona Lurdes ist gestorben, aber sie lassen uns nicht nach oben. Allmählich kamen die Alten im Saal zusammen und sahen zu den Innengalerien ringsum, wo sich die Türen aneinanderreihten. Sie fragten sich, ob es wahr sein kann, dass Dona Lurdes wegen des Wahnsinnskrachs der Raketen vor Schreck das Herz stehengeblieben ist. Was für ein Tod, mitten beim Fest. Was für einen dummen Tod die arme Dona Lurdes erlitten hatte, die ich nun ersetzte. Wenn man daran denkt, dass die Raketen Teufelszeug sind und dass Dona Lurdes vor Angst implodiert war, worin man aber auch eine große Begierde sehen kann, endlich zu erfahren, wie es ist, wenn man stirbt.
    Bei der Trauer, der sie sich eilig hingaben, damit sie eine bestimmte Zeit für die folgenden Trauerfälle aufsparten, war ich noch ein Eindringling. Ich war ein Eindringling, der nicht um Dona Lurdes weinen würde, schließlich hatte ich sie gar nicht gekannt. Ich verstand noch nicht, wie anmaßend meine Haltung war, wenn ich nicht reden und keine Kontakte pflegen wollte, und wie sehr die Haltung der anderen schon die von Gleichen war, miteinander verbunden durch ein ganz und gar unausweichliches und gleichrangiges Schicksal, das sie nun vollendeten. Welch klare Landschaft von Alten das hier war. Es kam wenig darauf an, dass ihr Stolz die mehr oder weniger glänzende, wahrhaftige oder geflunkerte berufliche Vergangenheit überhöhte. Viele lügen nämlich schamlos, um sich nicht demütigen zu lassen. Auf das alles kam es aber wenig an, denn am Lebensende waren alle gleich, eine Schar von Verlassenen, die den Staub umgekehrt proportional zum Sand im Stundenglas der wenigen verbliebenen Lebenszeit abrechneten.
    In der

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