Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
darauf achtete, ob sein Haar perfekt gekämmt war, hieß das, daß die Neuigkeiten sogar noch schlimmer sein konnten als sie vermutete.
»Ich weiß nicht«, antwortete er. »Anscheinend haben mehrere Fernsehsender und größere Zeitungen einen anonymen Hinweis erhalten. Nun geht das FDA der Anschuldigung nach, wir mischten Tigerpenis in unseren Tee!«
Sie näherten sich den Fahrstühlen. Desmonds Stirnfalten vertieften sich und entstellten seine ebenmäßigen Gesichtszüge.
»Das ist noch nicht alles«, fuhr er fort. »Der Bundesagent, der die beiden anderen Fälle bearbeitete …«
»Ja. Johnson.«
»Den hat man abgezogen. Rate mal, wer seine Aufgabe übernommen hat.«
Charlotte brauchte nicht zu raten. Desmonds unglückliches Gesicht verriet ihr alles. Valerius Knight, ein Agent der Bundesbehörde für Ernährung und Gesundheit – des FDA –, der an seiner Karriere baute, indem er gezielt Hersteller von Naturheilmitteln angriff. Das waren schlechte Aussichten.
»Was ist mit Adrian und Margo?« fragte sie.
Desmond nutzte die Wartezeit vor dem Fahrstuhl dazu, seine äußere Erscheinung in Ordnung zu bringen – er fuhr sich mit den Fingern durch das braune, ein wenig zerzauste Haar und strich den schwarzen Merinopullover mit dem V-Ausschnitt und die schwarze Nylonhose glatt. Charlotte bemerkte, daß sein schwarzer Ledermantel trocken war. Er war also noch nicht draußen gewesen, um sich den Reportern zu stellen. Jetzt nahm er sich sogar noch einen Augenblick Zeit, um seine goldene Halskette in eine vollendete Rundung zu legen. »Mutter und Vater sind auf dem Weg hierher«, antwortete er. »Sie kommen mit dem Firmenjet.«
Charlotte betrachtete ihr Spiegelbild in den glänzenden Fahrstuhltüren. Sie wußte, daß sie mit ihren regennassen am Kopf klebenden, langen, schwarzen Haaren nicht wie die Vorstandsvorsitzende eines Naturheilmittel- und Pharmaziekonzerns mit Millionenumsätzen aussah. Ihre Züge waren so angespannt, daß die asiatischen Wangenknochen, die normalerweise nicht auffällig waren, jetzt stark hervortraten und ihre Haut eine Blässe angenommen hatte, die an die uralte Elfenbeinfigur der Göttin Kwan Yin in ihrem Büro erinnerte. Charlotte wirkte jetzt bei weitem nicht mehr so amerikanisch wie sonst. Sie hatte dunkle Augenringe von einer Woche voll schlafloser Nächte. »Geheimnisvolle Augen« hatte Jonathan sie einmal genannt, vor langer Zeit, weil es Augen waren, die verborgenes Wissen hüteten, Dinge, die niemand sonst wußte, bis hin zu der Tatsache, daß Charlotte nicht ihr echter Name war.
Sie schaute hinüber zu dem anderen Gesicht, das sich in dem polierten Chrom spiegelte. Desmond war ein gutaussehender Mann mit ebenmäßigen Zügen und einem sorgsam gepflegten Äußeren. Auch er hatte Geheimnisse. Charlotte fragte sich, ob das der Grund dafür war, daß er immer eine Sonnenbrille trug, selbst jetzt, wenn es draußen dunkel war und es in Strömen regnete.
»Herr Jesus«, knurrte Desmond und drückte ungeduldig wieder den Fahrstuhlknopf. »Das ist ja unglaublich! Ich sage dir, die Sache ist noch schlimmer als die damals, als du von den Außerirdischen entführt worden bist.« Gleich darauf sah er sie betreten an. »Tut mir leid. Schlechter Scherz.«
Aber er hatte es nicht scherzhaft gemeint, sondern, das wußte Charlotte, genau so, wie er es gesagt hatte. Desmond hatte noch nie eine Gelegenheit ausgelassen, auf einen Vorfall anzuspielen, der ihn die letzten vierundzwanzig Jahre lang beschäftigt zu haben schien.
Sie war damals fünfzehn Jahre alt gewesen und Des vierzehn. In diesem Sommer war Charlotte auf rätselhafte Weise für drei Wochen verschwunden und hatte hinterher niemandem erzählen wollen, wo sie gewesen war. Desmond fragte immer wieder: »Hat dich mein lüsterner alter Großvater wirklich verführt, wie alle behaupten?« Dann fing er an, das Ganze ins Lächerliche zu ziehen und alberne Bemerkungen zu machen: »Nein, das kann nicht sein. Du bist bestimmt von Außerirdischen entführt worden.«
Charlotte konnte es nicht fassen. Jetzt, nach soviel Jahren, mitten in einer Firmenkrise, wollte Desmond immer noch wissen, wo sie in jenem Sommer gewesen war. Dabei ahnte er nicht einmal, daß er der Wahrheit um vieles näher war, als er dachte: sie war tatsächlich entführt worden.
»Erzähl mir alles über diesen neuen Vorfall«, bat sie, während sie in den zweiten Stock fuhren. Dort befanden sich die Büros der Firma.
»Die vorläufige Analyse der vor Ort gefundenen
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