Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
Naturprodukte« waren ebenso unauffällig wie die Gebäude selbst. Die Reichen und Vornehmen, die die Golfplätze und exklusiven Ferienanlagen von Palm Springs besuchten, wollten nicht an Krankheit und Sterblichkeit erinnert werden.
Als erstes kam Charlotte an dem Gebäude vorbei, in dem Laboratorien und Produktion untergebracht waren. Sie sah Angehörige der Ortspolizei in gelben Regenjacken, die die Zugänge absperrten und die Menschen am Eindringen hinderten. Vor dem Hauptgebäude bemerkte sie erschrocken, daß mehrere Nachrichtenteams und Übertragungswagen sowohl der örtlichen Radiostation als auch der drei lokalen Fernsehsender sowie von CNN auf dem Parkplatz standen. Bevor sie aus dem Auto stieg, sprach sie ein stilles Gebet für das unschuldige, verlorene Leben. Sie spürte Stiche im Herzen, wenn sie daran dachte, daß ihre Firma, die ausschließlich dem menschlichen Wohlbefinden und dem Schutz des Lebens dienen sollte, drei Menschen getötet hatte. Sie war froh, daß ihre Großmutter diese Schande und Entehrung nicht mehr miterleben mußte.
Dann sah sie die unter Regenschirmen zusammengedrängten Demonstranten, die Schilder mit zornigen Aufschriften hochhielten. Desmond hatte recht, irgendwie waren sie an das Bild gekommen. Aber das war auch nicht weiter verwunderlich, denn das Nachrichtenfoto, vor acht Jahren aufgenommen, war der Öffentlichkeit jederzeit zugänglich. Das Problem lag darin, daß das Bild nicht die wahre Geschichte zeigte. Man hat mich freigesprochen! hätte Charlotte am liebsten laut geschrien, als sie den Blick von ihrem schwarzweißen Abbild losriß, auf dem sie mit erhobenen, blutigen Armen dastand, das Gesicht wutverzerrt.
Sie stieg aus der Corvette und merkte, wie der Wind umschlug und ihr den Regen in die Augen trieb, zugleich aber einen zarten Hauch köstlicher Düfte aus der nahen Kantine herüberwehte. Obwohl Harmony viele Amerikaner angelsächsischer und lateinamerikanischer Abstammung beschäftigte, war das Essen hauptsächlich chinesisch, eine Tradition, die Charlottes Großmutter, überzeugt davon, daß Nahrung ebenfalls heilende Kräfte besaß, vor langer Zeit begründet hatte. Heute abend gab es für die Abendschicht geschmorten Kabeljau, zubereitet mit dangshen und huangqui – chinesische Kräuter, die die körperliche Energie verstärkten und die Verdauung förderten.
»Mrs. Lee!« riefen die Reporter durch den Regen und streckten ihr die Mikrophone entgegen, während sie auf das Hauptgebäude zueilte. »Glauben Sie immer noch, daß es sich um einen Zufall handelt? Bei drei Todesfällen?« Wortlos drängte sie weiter. Ein Reporter versperrte ihr den Weg. »Was ist mit den Behauptungen, daß Ihr Unternehmen für manche Produkte tierische Bestandteile von bedrohten Arten verwendet?« Charlotte starrte den Mann verblüfft an. Dann ging sie einfach wortlos an ihm vorbei und flüchtete in die schützenden Arme von Desmond, Senior Vice President und Marketingchef. Desmond war ihr Cousin. Früher wäre er auch gern ihr Geliebter gewesen. Sie hatte den Verdacht, daß es immer noch so war.
»Das ist ein Alptraum!« sagte er und schob sie hastig durch die weiträumige Eingangshalle, wo die Männer vom Werkschutz dafür sorgten, daß niemand sonst hereinkam. »Guter Gott, du bist ja weiß wie ein Laken!«
»Ich hatte einen Unfall, Des.« Rasch berichtete sie von dem Vorfall mit der Garagentür.
»Heilige Scheiße, Charlie! Bist du in Ordnung?« Seine hinter einer Ray-Ban-Sonnenbrille verborgenen Augen suchten fieberhaft nach aufschlußreichen Anzeichen für ihre körperliche Verfassung.
»Ich war ziemlich geschockt, aber jetzt geht es mir wieder gut.«
»Ist von der Corvette noch etwas übrig?«
»Das ist ja das Unheimliche an der Sache, Des. Ich saß nicht in der Corvette. In letzter Minute hatte ich mich für den Chevy entschieden. Hätte ich die Corvette genommen, wäre ich wahrscheinlich schwer verletzt worden, vielleicht sogar tot.«
»Heilige Scheiße«, wiederholte Desmond, diesmal leiser. »Wenn die Götter je über dir gewacht haben, dann heute abend.«
»Des, was ist das für eine Geschichte von illegalen tierischen Bestandteilen in unseren Produkten?«
Charlotte fiel auf, daß Desmond einen gehetzten Eindruck machte, ganz untypisch für ihn, der sonst dermaßen sorgfältig auf sein Äußeres achtete, daß es, wie sie häufig fand, fast schon an Besessenheit grenzte. Das beunruhigte sie nur noch mehr.
Wenn Desmond sich so aufregte, daß er nicht mehr
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