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Das Haus der kalten Herzen

Das Haus der kalten Herzen

Titel: Das Haus der kalten Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Singleton
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schürfte sie sich Knie und Ellenbogen auf, als sie ihren Körper durch die schmale Öffnung zwängte. Der Kamin verschlang sie wie ein schwarzes Maul. Sie trat erstickende Wolken von weichem, Husten auslösenden Ruß los. Wieder musste sie an die armen kleinen Kaminkehrer denken.
    Sobald sie über die Feuerstelle hinaus gekrochen war, weitete sich der Kamin ein wenig. Der Schlot mündete in den Hauptschornstein, der vom Erdgeschoss bis ganz zum Dach führte. Mercy fand die schmalen gemauerten Fußstützen und fing an zu klettern.
    Etwas Schwereres und Beängstigenderes hatte sie noch nie getan. Unter ihr fiel der Schlot steil ab, schwindelerregend tief. Oben stachen die Sterne durch den kleinen Kreis des Nachthimmels. Es war bitterkalt. Mercys Hände waren steif und schmerzten. Ruß und Staub wirbelten ihr von den Wänden in Augen, Nase und Mund. Sie konnte den Weg kaum vor sich sehen.
    Stufe um Stufe kletterte sie vorsichtig weiter, klammerte sich mit den Fingern fest, zog sich hoch und höher. Charitys hingekritzelter Plan hatte vorgesehen, dass sie in das höher gelegene Stockwerk stieg – auf den Dachboden, wie Mercy annahm –, wo sie durch eine weitere Öffnung im Schlot hinausgelangen würde.
    Der Aufstieg konnte insgesamt nur ein paar Meter betragen, dennoch schien er Mercy ewig zu dauern. Schließlich streckte sie die Hand nach dem nächsten Mauervorsprung aus und fand stattdessen über ihrem Kopf eine kleine Holztür. Eine Tür? Sie stieß dagegen. Die Tür ging nicht auf. Sie kletterte etwas höher, sodass die Tür vor ihrem Gesicht war. Dann versuchte sie es noch einmal, sie schlug auf jede Ecke, aber die Tür wollte nicht aufgehen. Sie tastete auf der Oberfläche nach einem Riegel oder einem Schloss. Aber alles war glatt. Offenbar ließ sich die Tür nur von der anderen Seite öffnen.
    Mercy war am Boden zerstört. Sie konnte es nicht fassen. Warum hatte Charity die Tür nicht aufgemacht? Was sollte sie jetzt tun, so weit vom Boden entfernt im Schornstein hängend? Der Gedanke, wieder hinunterzuklettern und durch die kleine Feuerstelle in ihr Gefängnis zurückzukehren, war ihr unerträglich. Tränen Schossen ihr in die Augen.
    »Charity!«, rief sie. »Charity! Hilf mir!«
    Stille. Sie war gefangen. Was nun? Wieder hinunterklettern, an ihrem Zimmer vorbei und weiter, in eine tiefere Etage? Ihre Arme und Beine zitterten schon. Mercy tat einen tiefen Atemzug. Sie kletterte ein wenig höher und drückte ihren Rücken gegen die Kaminwand gegenüber der Tür. Ihre Beine waren gerade vor ihr ausgestreckt gegen die Wand gestemmt, die Füße links und rechts von der winzigen Tür. Dann zog sie ein Bein an und trat mit voller Kraft gegen die Tür.
    Sie hielt stand. Mercy trat noch einmal zu. Zwei, drei, vier. Der Knall hallte durch den engen Raum, aber Mercy ließ nicht nach. Sie trat mit all ihrer Kraft und Verzweiflung zu.
    Fünf, sechs! Mit einem Knall und einer Staubwolke flog die Tür auf. Mercy atmete tief durch. Jetzt war ihr heiß – und sie war siegestrunken. Sie kletterte durch die Öffnung und ließ sich auf die nackten Bodendielen fallen.
    Langsam kam sie wieder zu Atem, setzte sich auf und wischte sich das Gesicht ab. Schweiß hatte sich mit Ruß vermischt und brannte in ihren Augen. Sie war schmutzig. Schmerzen von kleinen Schrammen und blauen Flecken zwickten an Armen und Beinen.
    Doch Mercy hatte keine Zeit für Selbstmitleid. Sie schob die kleine Tür zu, verriegelte sie aber nicht, man konnte ja nie wissen. Zweifellos war die Tür, ebenso wie die gemauerten Fußstützen, gebaut worden, damit die unglückseligen kleinen Kaminkehrer die Schornsteine säubern konnten.
    Sie schaute sich um. Selbst mit ihrer Nachtsichtigkeit war es schwer, etwas zu erkennen. Der Dachboden hatte keine Fenster, ihr kam also nicht einmal ein Hauch von Mondlicht zu Hilfe. Natürlich war es ein großer Raum, der sich von einem Ende des Hauses zum anderen erstreckte. Hier und da Knäuel von Dunkelheit, ausrangierte Möbel und Holzkisten. Eiskalte Zugluft wehte durch die Dachziegel, Mercy zitterte, sie trug nur ihre Unterwäsche.
    Dann begann sie, mit Augen und Händen nach einem Weg hinaus zu suchen. Sie tastete sich mit den Füßen vor. Ehe sie dieses sonnige, im Tageslicht daliegende Century besucht hatte, war ihr gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie sich mittlerweile auf ihre anderen Sinne verließ, um sich im Haus zurechtzufinden. Sie war wie eine fast Erblindete, die die Gestalt des Hauses erkundete, indem sie

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