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Das Haus der kalten Herzen

Das Haus der kalten Herzen

Titel: Das Haus der kalten Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Singleton
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sich auf das Licht in ihrer Erinnerung verließ. Im Dunkeln sah sie so gut wie ein Nachttier, eine Eule oder ein Fuchs, aber ein Jahrhundert des Umherwanderns hatte auch andere Sinne geschärft. Was sie nicht mit den Augen sehen konnte, zeichnete die Erinnerung nach. Allerdings war sie noch nie auf dem Dachboden gewesen und konnte deshalb nicht auf hilfreiche Erinnerungen zurückgreifen.
    Unter den riesigen Dachbalken hindurch ging sie in einen zweiten Bodenraum. Hier standen weitere abgelegte Sachen herum. Sie musste aufpassen, wo sie hintrat. Etwas huschte davon, Krallen trippelten über die Bodenbretter. Zu groß für eine Maus. Sie schlang die Arme fest um sich und ging weiter.
    In dem dunklen Durcheinander ragte ein flacher, verhüllter Gegenstand auf, der ihr den Weg versperrte. Ob sich der zur Seite schieben ließ? Ein mottenzerfressenes Laken blieb an ihren Fingern hängen, als sie es versuchte. Darunter befand sich ein rutschender Haufen, der schwer von der Stelle zu bewegen war. Drei, vier Sachen waren es. Nein, wohl doch ein halbes Dutzend, das an einer Holzkiste lehnte.
    Gemälde, das mussten Gemälde sein. Sie betastete die reich verzierten Rahmen mit den Fingern, strich über die glatte, geölte Leinwand. Ob das die Bilder von Thekla und Claudius waren, die Gemälde, deren Anblick ihr Vater nicht mehr ertragen konnte? Natürlich würde er sie auf dem Dachboden aufbewahren. Das lag doch auf der Hand. Sie betastete die Leinwand mit den Fingerspitzen. Vielleicht berührte sie das Gesicht ihrer Mutter. Ein Schatz, wirklich, wenn es tatsächlich das war, was sie vermutete. Ihre Stimmung hellte sich auf. Vielleicht war ihre Suche doch nicht so hoffnungslos. Auf dem Bilderstapel lag noch ein kleineres Bündel, in Stoff gewickelt und mit einem Band verschnürt. Mercy nahm es mit. Noch ein Bild, hoffte sie. Die Gelegenheit, Charity die Gesichter ihrer lange verlorenen Verwandten zu zeigen. Ihre Laune besserte sich noch mehr. Sie war so weit gekommen und hatte scheinbar unüberwindliche Hindernisse bewältigt, mutig und aus eigener Kraft – und natürlich mit der Unterstützung von Charitys Einfallsreichtum. Sie hatte den schrecklichen Kamin bezwungen. Trotz des Drecks in Augen und Mund lächelte sie vor sich hin in die Dunkelheit, während sie das Bündel immer noch fest umklammert hielt. Es wurde Zeit zu gehen.
    Sie quetschte sich an dem Stapel Gemälde vorbei und stieg eine kurze hölzerne Stiege hinauf zu einem dritten Raum. Dort fand sie eine kleine Tür. Sie holte Charitys Schlüssel aus ihrem Strumpf und steckte ihn ins Schlüsselloch. Es knirschte, aber das Schloss drehte sich. Mercy achtete darauf, die Tür wieder hinter sich abzuschließen, und behielt den Schlüssel bei sich. Sie lief eine lange, enge Treppe hinunter auf den Korridor. Jetzt musste sie Charity finden.
    In ihrem Zimmer war sie nicht. Mercy schlich sich hinein und wartete, rußgeschwärzt und eisig kalt kauerte sie sich in einer Ecke zusammen. Sie hatte schwache Fußabdrücke auf dem Teppich hinterlassen. Wie lange es wohl dauern mochte, bis Galatea entdeckte, dass ihre Gefangene geflohen war? Sie nestelte an den Knoten, die das Bündel vom Dachboden zusammenhielten. Die altersschwache Schnur zerbröselte unter ihren Fingern. Mercy faltete den Stoff auseinander und schaute auf ein fein gearbeitetes Porträt, ein weißes Gesicht im winzigen Goldrahmen. Sie musste sich beeilen, in Centurys Vergangenheit zurückzukehren, ehe Trajan oder die Dienstboten sie fanden. Vielleicht hatten sie entdeckt, dass Charity ihr geholfen hatte, und auch sie eingesperrt. Sie sehnte Charity herbei, hoffte, sie möge sich beeilen und in ihr Zimmer zurückkommen.
    Die Tür ging auf.
    »Charity!« Mercy sprang auf. Charity erschrak. Sie starrte sie an.
    »Mercy?«, sagte sie. »Wie du aussiehst. Du armes Ding. Du bist dreckig. Was hast du mit deinem Haar gemacht?«
    »Keine Sorge. Ich habe es nur hochgebunden, zum Klettern. Siehst du? Woher wusstest du von dem Schlot und den Bodenräumen?«
    »Das war nicht leicht«, sagte Charity. »Ich habe in der Bibliothek die Baupläne für das Haus gesucht, die Luke war eingezeichnet, obwohl ich mir schon Sorgen gemacht habe, ob du sie überhaupt finden würdest. Den Bodenschlüssel habe ich aus dem kleinen Schrank in Aurelias Wohnzimmer gestohlen.«
    »Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Mercy. »Hilf mir. Gib mir das Buch.«
    Charity starrte sie immer noch an. »Du siehst überhaupt nicht aus wie du«, sagte sie

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