Das Haus der kalten Herzen
staunend.
Mercy seufzte. »Hast du Wasser, damit ich mich waschen kann? Und ich muss mir Kleider leihen. Dann kann ich fliehen.«
Charity nickte langsam. »Du bist so anders«, sagte sie. »Nicht nur, weil du anders aussiehst. Du klingst nicht einmal mehr wie meine Schwester.«
Mercy atmete tief ein. »Ich weiß«, sagte sie. »Ich fühle mich auch nicht mehr so wie sonst. Alles verändert sich. Es kann nicht einfach so bleiben, wie es einmal war. Du glaubst das doch auch, oder?«
Charity zögerte, dann nickte sie.
Auf dem kleinen Marmorwaschtisch in ihrem Zimmer standen ein Krug mit Wasser und eine Schüssel. Sie goss Wasser in die Schüssel, während Mercy ihre schmutzige Unterwäsche auszog und unten in Charitys Kleiderschrank verstaute.
Dann wusch sie sich, so gut es ging, aber das Wasser war kalt und es war nur wenig da, und Staub und Ruß hatten sich tief in ihre Haut gerieben. Trotz des Hochbindens war ihr Haar voller Staub. Charity kramte nach einem Kleid, aber ihre Kleider waren alle nicht nur alt und moderig, sondern auch zu klein. Mercy nahm sich eines, obwohl ein Ärmel sich löste, als sie es anzog.
»Das Buch«, sagte sie und machte die Knöpfe zu, bei denen das noch möglich war. »Gib mir das Buch.«
Charity holte das rote Buch hervor, das sie in eine Stola gewickelt und unter dem Schrank verstaut hatte.
»Hör gut zu«, sagte Mercy. »Vater hat ein magisches Buch über Century geschrieben, das uns in einer einzigen, langen kalten Nacht festhält. Er denkt, dadurch sind wir in Sicherheit, aber ich will nicht so weitermachen und immer wieder denselben Tag erleben, deshalb werde ich die Geschichte in dem roten Buch neu schreiben und den Zauberbann brechen. In Vaters Buch waren Bilder, und ich finde, in dem neuen sollten auch welche sein. Deshalb brauche ich deine Hilfe, du zeichnest so wunderbar. Kannst du ein Bild vom Haus im Schnee machen, mit einem davongaloppierenden Reiter? Wir brauchen auch ein Bild von Claudius und Marietta und unseren Eltern. Und Bilder von uns beiden.«
Charity starrte ihre ältere Schwester noch immer an, als hätte sie Schwierigkeiten zu begreifen, was Mercy ihr erzählte. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Claudius und Marietta habe ich nie gesehen -jedenfalls erinnere ich mich nicht an sie. Und an Mutter erinnere ich mich auch nicht. Es gibt keine Porträts.«
»Ich glaube, die sind auf dem Dachboden«, sagte Mercy. »Vater hat gesagt, er hat sie weggesperrt, und da oben steht so viel herum. Ich habe einen Stapel Bilder gefunden, nachdem ich durch den Schornstein geklettert bin. Ist doch einleuchtend, dass sie da sind, oder nicht? Und schau mal.« Sie hob die Miniatur auf und streckte sie ihr auf der Handfläche hin. »Siehst du? Das ist Marietta. Dieses Bild hat Claudius gehört. Auf der Rückseite ist eine Gravur.«
Charity schnappte nach Luft. Das Bild schien zu leuchten. Mit gedrehtem Kopf betrachtete Marietta die Mädchen aus dem winzigen Porträt heraus. Ihre Jugend und ihre Schönheit strahlten, das kleine Bild war ein Fenster zu einer anderen, helleren Welt.
»Sie ist wunderschön«, hauchte Charity. »Wie eine Fee. Gibt es sie wirklich?«
»Ja«, sagte Mercy. »Es gab sie wirklich. Claudius hat sie geliebt. Behalte es. Versteck es vor Vater und Galatea. Und nimm dir eine Laterne mit auf den Dachboden, damit du die anderen findest. Hier ist der Schlüssel. Zeichne sie für mich, ich komme wieder und hole sie ab. Mach die besten Bilder, die du nur zeichnen kannst – und beeil dich. Lass es glückliche Bilder werden, Charity.«
Charity streckte die Hände aus und griff nach den Armen ihrer Schwester. »Ich habe Angst, Mercy«, sagte sie.
»Ich auch.« Mercy nahm Charity in die Arme und die beiden hielten sich ganz fest.
»Viel Glück«, sagte Charity. »Ich hoffe, du hast Recht.«
»So können wir nicht leben«, sagte Mercy. »Warte nur. Warte nur, bis du den Tag siehst. Dann wirst du es wissen.«
Sie umarmten sich noch einmal und mochten sich nicht trennen. Dann machte Mercy sich los.
»Ich habe etwas gehört«, flüsterte sie. »Schritte. Da kommt jemand.«
»Versteck dich«, sagte Charity. »Schnell …«
Der Türknauf drehte sich und die Tür flog auf.
»Charity!« Galatea stand in der Tür. Einen Moment lang war sie verwirrt von den beiden Mädchen ihr gegenüber, eins davon rußverschmiert und in Charitys Kleid.
Mercy wartete nicht ab, bis die Gouvernante ihre Sinne wieder beisammen hatte. Sie packte das Buch und stürmte auf die Tür zu.
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