Das Haus der Madame Rose
Duft des Heus und in den nahen Wäldern das Vogelgezwitscher genießen, aber ich weiß natürlich auch, wie sehr Ihr beide Euer Viertel liebt. Seltsam, nicht wahr? Schon während wir zusammen an der Place Gozlin aufwuchsen, hegte ich immer den Wunsch, eines Tages von dort wegzugehen. Auch während Edith und ich lange Jahre in der dem Untergang geweihten Rue Poupée wohnten, wusste ich immer, dass ich nicht bis zum Ende meiner Tage in der Stadt bleiben würde. Als wir den Brief von der Präfektur bekamen mit der Nachricht, dass unser Haus abgerissen werden sollte, war mir klar, dass dies die Wende war, auf die ich immer gewartet hatte.
Ich weiß, dass Du glaubst, die Rue Childebert wäre sicher, Rose, weil sie so nah bei der Kirche Saint-Germain-des-Prés liegt. Ich weiß auch, dass Armands Elternhaus ihm viel bedeutet. Aber hältst Du es nicht auch für unklug, einem Haus eine solche Bedeutung beizumessen? Es wäre das allerschlimmste Verhängnis, wenn Armand in seinem Zustand sein Haus verlieren würde. Meinst Du nicht, es wäre vernünftiger, aus der Stadt wegzuziehen? Ich könnte Euch helfen, ein schönes Haus hier in unserer Nähe in Vaucresson zu finden. Ich denke, Ihr würdet die Ruhe und den Frieden in diesem kleinen Dorf schätzen. Du bist noch keine fünfzig, Ihr habt noch immer Zeit, Euch zu verändern und neu anzufangen, und Du weißt, dass Edith und ich Euch dabei helfen würden. Violette ist glücklich verheiratet, sie lebt in Tours und zieht dort ihre Kinder groß, sie braucht ihre Eltern nicht mehr. Nichts hält Euch in Paris.
Rose, ich flehe Dich an, denk darüber nach. Denk an die Gesundheit Deines Mannes und an Dein eigenes Wohlergehen.
Dein Dich liebender Bruder
Émile
Die Sicherheit, dass keine lebende Seele das , was ich hier unten zusammengekritzelt habe, je zu Gesicht bekommen wird, ist mir eine große Erleichterung. Ich fühle mich befreit. Mein Gewissen ist mir zwar eine Last, aber es scheint ein wenig leichter geworden zu sein. Bist Du bei mir, Armand? Kannst Du mich hören? Mir gefällt der Gedanke, dass Du hier neben mir sitzt. Ich hätte gern eine Kamera wie Monsieur Marville, dann hätte ich jedes Zimmer unseres Hauses fotografieren und unsterblich machen können.
Ich hätte mit unserem Schlafzimmer angefangen – dem Herz unseres Hauses. Als neulich die Umzugsleute kamen und unsere Möbel packten, um sie zu Violette zu bringen, verbrachte ich eine ganze Weile in unserem Schlafzimmer. Wenn Wände sprechen könnten, hätten sie wohl viele Geschichten zu erzählen … Sie wurden Zeugen von neuem Leben und Tod. Ich stand an der Stelle, wo das Bett war, gegenüber dem Fenster, und sagte mir: Hier wurdest Du geboren, hier bist Du gestorben. Hier starb Dein Vater und sein Vater wahrscheinlich auch. Hier brachte ich unsere Kinder zur Welt.
Nie werde ich die kanariengelbe Tapete vergessen, die bordeauxroten Samtvorhänge, die Vorhangstangen, die wie Pfeilspitzen ausliefen. Den Marmorkamin. Den ovalen Spiegel mit dem vergoldeten Rahmen. Den zierlichen Bonheur du Jour mit den Schubladen voller Briefe, Briefmarken und Federn. Den kleinen Tisch mit den Rosenholzintarsien, wo Du immer Deine Brille und Deine Handschuhe ablegtest und ich die Bücher stapelte, die ich bei Monsieur Zamaretti kaufte. Das breite Mahagonibett mit den Messingbeschlägen und Deine grauen Filzpantoffeln auf der linken Seite, wo Du schliefst. Ja, ich werde mich immer daran erinnern, wie die Sonne hereinschien, selbst an Wintermorgen strich sie mit einem siegessicheren goldenen Finger über die Wände und ließ das Gelb der Tapete in schimmerndem Gold leuchten.
Beim Gedanken an unser Zimmer spüre ich wieder den stechenden Geburtsschmerz. Es heißt, Frauen vergäßen ihn mit der Zeit. Nein, den Tag, als Violette geboren wurde, werde ich wohl nie vergessen. Vor meiner Hochzeit hatte meine Mutter nie mit mir über die Dinge des Lebens gesprochen. Aber worüber sprach sie überhaupt je mit mir? Sosehr ich auch nachdenke, ich kann mich an kein interessantes Gespräch, an keinen denkwürdigen Moment mit ihr entsinnen. Deine Mutter flüsterte mir vor der Niederkunft mit unserem ersten Kind ein paar Worte zu. Sie sagte, ich müsse tapfer sein. Das jagte mir einen Schauder über den Rücken. Der Geburtshelfer war ein gelassener Mann, der nicht viel sprach, und wenn die Hebamme zu mir kam, war sie immer in Eile, denn im Viertel brauchte noch eine andere Frau ihre Hilfe. Meine Schwangerschaft verlief problemlos, ohne häufige
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