Das Haus der Madame Rose
sie denn nicht alles – Schönheit, Geist, hohe Geburt, eine glänzende Heirat? Und doch spürte ich bei Louise de Vresse eine fast greifbare Traurigkeit. Sie war sehr viel jünger als ich, jünger auch als Violette und Alexandrine, aber sie besaß eine Reife, die ich selten bei einer Frau ihres Alters erlebte. Während ich ihre schlanke Gestalt bewunderte, fragte ich mich, was sie wohl für Geheimnisse hatte. Was verbarg sich unter dem schönen Schein? Ich verspürte das Bedürfnis, mich ihr anzuvertrauen, und hätte mir gewünscht, im Gegenzug ihre Enthüllungen zu hören. Natürlich wusste ich, dass das so gut wie unmöglich war.
Ich erinnere mich an ein fesselndes Gespräch. Eines Vormittags nach der Blumenlieferung saß ich mit der Baronne bei einer Tasse heißer Schokolade, die Célestin uns serviert hatte – in wunderschönem Limoges-Porzellan mit dem Wappen der Baronne. Sie las Zeitung und kommentierte die Nachrichten. Das mochte ich an ihr, ihr waches Interesse an allem, was in der Welt los war, ihre ungekünstelte Wissbegierde. Sie war gewiss keine eitle, hohlköpfige Kokotte. An jenem Tag trug sie ein bezauberndes perlweißes Krinolinenkleid mit spitzenbesetzten Trichterärmeln und ein hochgeschlossenes Mieder, das ihren zierlichen Oberkörper perfekt zur Geltung brachte. »Oh, Gott sei Dank«, rief sie plötzlich über der Zeitung aus, und ich fragte sie, was los sei. Sie erklärte, die Kaiserin habe sich höchstpersönlich dafür verwandt, dass die Strafe für Charles Baudelaire beträchtlich reduziert wurde. Ob ich Die Blumen des Bösen gelesen hätte, fragte sie. Ich sagte ihr, Monsieur Zamaretti hätte mir kürzlich von Charles Baudelaire erzählt. Er hatte mir gesagt, dass man auch Baudelaire wegen seiner Gedichte den Prozess gemacht und es einen Skandal ähnlich wie um Madame Bovary gegeben hätte. Doch ich hatte die Gedichte noch nicht gelesen. Die Baronne stand auf, holte ein schmales Bändchen aus dem angrenzenden Zimmer und reichte es mir. Die Blumen des Bösen. Eine schöne Ausgabe in einem feinen grünen Ledereinband mit einem Kranz exotischer, rankender Blumen auf dem Umschlag.
»Ich denke, diese Gedichte werden Ihnen sehr gefallen, Madame Rose«, sagte sie. »Bitte nehmen Sie doch diesen Band mit nach Hause und lesen Sie ihn. Ich bin sehr gespannt, was Sie dazu sagen.« Also ging ich nach Hause, aß zu Mittag und setzte mich dann zum Lesen hin. Misstrauisch schlug ich das Buch auf. Die einzigen Gedichte, die ich je gelesen hatte, waren die von Dir an mich, Liebster. Ich hatte schreckliche Angst, dass ich mich langweilen könnte, als ich die Seiten durchblätterte. Was sollte ich der Baronne sagen, ohne ihre Gefühle zu verletzen?
Nun weiß ich, dass man als Leser dem Schriftsteller, dem Dichter trauen muss. Sie wissen, wie man die Hand ausstreckt, uns aus unserem normalen Leben holt und in eine andere Welt blicken lässt, eine Welt, die wir uns nie hätten vorstellen können. Begabte Autoren tun das. Und das tat auch Monsieur Baudelaire mit mir.
Biarritz, Villa Marbella, den 27. Juni 1865
Meine liebe Madame Rose,
haben Sie vielen Dank für Ihren Brief. Es dauerte eine Weile, bis er mich erreichte, denn ich bin nun in der Biskaya bei Lady Bruce, sie ist eine liebe Freundin, eine Engländerin mit erlesenem Geschmack und eine brillante Gesellschaft. Ich lernte sie vor ein paar Jahren in Paris kennen, beim Damen-Lunch im Hôtel de Charost, das, wie Sie vielleicht wissen, die britische Botschaft in der Rue Saint-Honoré beherbergt. Die Botschafterin, Lady Cowley, setzte Lady Bruce am Tisch neben mich, und wir verstanden uns trotz des Altersunterschieds ganz prächtig. Sie könnten einwenden, dass sie alt genug sei, um meine Großmutter zu sein, aber Lady Bruce ist alles andere als alt, sie ist voller Energie und Tatkraft. Doch jedenfalls ist Ihr Brief nun hier, und ich freue mich, Nachricht von Ihnen zu haben. Und wie ich mich erst freue, dass Sie großen Gefallen an Charles Baudelaire gefunden haben! (Mein Mann versteht nicht, wieso ich in Baudelaires Verse so vernarrt bin, und es ist mir eine unendliche Erleichterung, in Ihnen eine Verbündete gefunden zu haben.)
Wie froh war ich, die Rue Taranne verlassen zu können, das staubige, laute Paris! Aber meine Floristin (und Ihre teure Gefährtin) fehlt mir ganz schrecklich. Hier in dieser Stadt kann ich trotz der schillernden Anwesenheit von Königin Isabella II. von Spanien – und der Kaiserin selbst – niemanden finden, der mir solche
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