Das Haus der Madame Rose
zu Zeit und berichten mir Ihre Neuigkeiten. Vielleicht wollen Sie mich ja auch einmal hier in Sens besuchen. Es ist ein nettes Städtchen. Eine willkommene Erholung von den endlosen Bauarbeiten, dem Staub und Lärm von Paris. Ich tröste mich damit, dass meine Gäste mir noch immer schreiben und mir sagen, wie sehr ihnen mein Hotel fehlt. Sie wissen ja, wie ich sie verwöhnte. Alle Zimmer waren makellos sauber, sie waren schlicht, aber geschmackvoll eingerichtet, und Mademoiselle Alexandrine brachte jeden Tag frische Blumen, von Monsieur Monthiers Pralinen gar nicht zu reden.
Wie sehr es mir fehlt, an der Rezeption zu stehen und meine Gäste willkommen zu heißen! Was war es doch für ein internationales Völkchen. So ein Irrsinn, zur Zeit der Weltausstellung zumachen zu müssen! Und wie grausam, sich damit abfinden zu müssen, dass die Frucht so vieler Jahre Arbeit zunichte gemacht wird.
Ich denke oft an Sie, Madame Rose, Ihre Güte und Freund lichkeit gegenüber allen Nachbarn. Ihre Tapferkeit, als Ihr Mann starb. Monsieur Bazelet war so ein feiner Herr. Ich weiß, dass er den Anblick, wie sein geliebtes Haus abgerissen wird, nicht ertragen hätte. Ich sehe Sie beide noch durch die Straße spazieren, bevor er so krank wurde. Sie waren ein so schönes Paar! Beide waren Sie bezaubernd, gut aussehend und so charmant. Und ich sehe auch noch den kleinen Jungen, Gott hab ihn selig. Ihr Kleiner wird immer unvergessen sein, Madame Rose. Gott segne ihn und Sie. Hoffentlich geht es Ihnen gut bei Ihrer Tochter, ich erinnere mich, dass Sie sich nicht sehr gut verstanden. Vielleicht bringt Sie diese Prüfung einander ja wieder näher.
Ich bete für Sie.
In aller Freundschaft und mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen,
Micheline Paccard
Meine Bücher habe ich hier unten bei mir . Schöne, aufwändig gebundene Exemplare in verschiedenen Farben. Ich möchte mich niemals von ihnen trennen. Madame Bovary natürlich, das mir die Tür zur berauschenden Welt der Literatur öffnete. Baudelaires Die Blumen des Bösen ; von Zeit zu Zeit lese ich darin, während die Stunden verstreichen. Das Faszinierende an Gedichten im Unterschied zu Romanen ist, dass man einfach ein paar Verse lesen, sie wieder weglegen und später weiterlesen kann, sie sind wie ein Topf Süßigkeiten, aus dem man immer wieder nascht. Die Gedichte von Monsieur Baudelaire sind eigenartig und tief bewegend. Voller Bilder, Geräusche und Farben, die mich manchmal verstören.
Hätten sie Dir gefallen? Ich nehme es an. Sie sprechen Gefühle und Sinne an. Mein Lieblingsgedicht ist »Das Flakon«. Es geht darin um Düfte, die Erinnerungen heraufbeschwören, und wie ein Geruch einen in die Vergangenheit zurückversetzen kann. Ich weiß, dass Rosenduft mich immer an Alexandrine und die Baronne erinnern wird. Kölnisch Wasser und Talk, das bist Du, Liebster. Heiße Milch und Honig ist Baptiste. Eisenkraut und Lavendel Maman Odette. Wärst Du noch hier, hätte ich Dir dieses Gedicht ganz sicher vorgelesen, wieder und wieder.
Manchmal kann die Lektüre eines Buches auch zu einem anderen Buch führen. Hast Du das auch erlebt? Bestimmt. Ich fand das schnell heraus. Ich durfte alle Regale in Monsieur Zamarettis Buchhandlung durchgehen. Ich stieg sogar auf die Leiter, damit ich auch die oberen Regale erreichen konnte. Du siehst, Armand, in mir war eine neue Begierde entfacht, und ich kann Dir versichern, dass ich an manchen Tagen richtig heißhungrig war. Mich überkam das Bedürfnis zu lesen, ein beglückender, anregender Drang. Je mehr ich las, desto hungriger wurde ich. Jedes Buch war eine Verheißung, jede Seite versprach ein Abenteuer, die Verlockungen einer anderen Welt, eines anderen Schicksals, eines anderen Traums. Und jetzt wirst Du wohl fragen, was ich denn so las.
Durch Charles Baudelaire kam ich an einen, ich glaube amerikanischen, Autor namens Edgar Allen Poe. Immerhin hatte Baudelaire selbst dessen Kurzgeschichten übersetzt. Das verlieh der Lektüre einen zusätzlichen unwiderstehlichen Reiz. Als mein Lieblingsdichter letztes Jahr starb, las ich, dass er auf unserem Friedhof, auf dem Cimetière Montparnasse, beigesetzt wurde. Ja, Charles Baudelaire fand nur ein paar Reihen von Dir, Baptiste und Maman Odette entfernt ewige Ruhe. In letzter Zeit war ich zu müde, aber als ich das letzte Mal bei Euch war, besuchte ich auch sein Grab. Ein Brief war dort niedergelegt, es hatte darauf geregnet, und die Tinte war auf dem Papier verlaufen, so dass es aussah wie eine
Weitere Kostenlose Bücher