Das Haus der Madame Rose
ein Kind. Wir hatten die Mitte des Flusses erreicht. Ich sah braunes Wasser unter dem Eis vorbeirauschen. Von Zeit zu Zeit hörte man ein lautes Knirschen. Das machte mir Angst. Wieder sagte Gilbert, ich müsse keine Angst haben. Es sei so kalt, dass das Eis mindestens einen Meter dick sei.
Wie sehr ich mich in jenem Augenblick nach Dir sehnte, Armand. Du wärst sprachlos gewesen bei diesem Anblick. Als wäre man in einer anderen Welt! Ich sah, wie Alexandrine mit dem kleinen schwarzen Hund umhertollte. Langsam stieg die Sonne höher, blass wie nie, und immer mehr Leute kamen die Böschung herunter. Die Zeit schien stillzustehen wie die gefrorene Wasserschicht unter meinen Füßen. Lautes Stimmengewirr und Gelächter. Der frische, eisige Wind. Die Schreie der Möwen in der Luft.
Als ich dort stand und Gilbert tröstend seinen Arm um mich legte, wusste ich, dass meine Zeit gekommen war. Ich wusste, dass das Ende nah war und es an mir lag: Ich konnte noch immer weichen, konnte noch immer das Haus verlassen. Aber ich hatte keine Angst. Gilbert sah mich an, während ich still neben ihm stand, und ich spürte, dass er genau wusste, was ich dachte.
Ich erinnerte mich an das letzte Essen, das Monsieur Helder in seinem Restaurant gegeben hatte. Alle Nachbarn waren da, ja, alle waren wir gekommen: Monsieur und Madame Barou, Alexandrine, Monsieur Zamaretti, Doktor Nonant, Monsieur Jubert, Madame Godfin, Mademoiselle Vazembert, Madame Paccard, Monsieur Horace, Monsieur Bougrelle, Monsieur Monthier. Wir saßen an den langen schmalen Tischen, die Dir so gefielen, unter der Hutablage aus Messing vor der rauchvergilbten Wand. Die Fenster mit den Spitzengardinen gingen auf die Rue Childebert und ein Stück der Rue d’Erfurth. Wir hatten hier oft zu Mittag und zu Abend gegessen. Du hattest eine Schwäche für das Salé aux lentilles , Pökelfleisch auf Linsen, und ich ließ mir gern die Bavette schmecken, einen Rinderbraten. Ich saß zwischen Madame Barou und Alexandrine und konnte es einfach nicht fassen, dass in ein paar Wochen oder Monaten all das verschwunden sein würde, ausradiert, ausgelöscht. Wir aßen schweigend. Keiner sprach viel. Sogar Monsieur Horaces Witze liefen ins Leere. Beim Dessert sah Monsieur Helder Gilbert die Straße hinunterhinken. Er wusste, dass wir Freunde waren. Er öffnete die Tür und lud Gilbert mit seiner rauen Stimme ein. Niemand schien sich an dem abgerissenen Lumpensammler in unserer Mitte zu stören. Gilbert nahm Platz, nickte allen respektvoll zu und verzehrte seine Meringue mit einer gewissen Anmut, wie ich fand. Unsere Blicke kreuzten sich, er zwinkerte fröhlich. Ah, er hat in jungen Jahren bestimmt einmal gut ausgesehen! Beim Kaffee nach dem Essen hielt Monsieur Helder umständlich eine Rede. Er wollte uns allen danken, dass wir seine Gäste gewesen waren, er zöge nun in die Corrèze, wo er bei Brive-la-Gaillard mit seiner Frau, deren Eltern dort lebten, ein Restaurant eröffnen wollte. Sie wollten nicht länger in einer Stadt leben, die so umfassend modernisiert wurde und, wie sie fanden und fürchteten, dabei ihre Seele verlor. Paris sei nicht mehr, was es einmal war, klagte er, und solange er noch Kraft hätte, würde er diese Kraft anderswo einsetzen und noch einmal von vorn anfangen.
Am Tag nach diesem letzten, tränenreichen Essen im Chez Paulette ging ich zufällig neben Gilbert durch die Straße. Seine Anwesenheit war tröstlich. Alle Nachbarn hatten angefangen, ihre Sachen zu packen und wegzuziehen. Droschken und Karren parkten vor den Häusern. Die Umzugspacker würden Anfang der folgenden Woche meine Möbel abholen. Gilbert fragte mich, wohin ich gehen wollte. Bis dahin war meine Antwort auf diese Frage ständig dieselbe gewesen: zu meiner Tochter Violette nach Tours. Aber irgendwie spürte ich, dass ich gegenüber diesem merkwürdigen Fremden ich selbst sein konnte. Ich musste nicht lügen.
Also, Liebster, sagte ich eines Tages zu Gilbert: »Ich gehe nicht weg. Ich werde mein Haus nie verlassen.« Er schien ganz genau zu verstehen, was das bedeutete. Er nickte. Er stellte keine Fragen. Ein paar Minuten später sagte er lediglich:
»Ich bin für Sie da, Madame Rose, ich helfe Ihnen, so gut ich kann.«
Ich sah ihn forschend an.
»Und warum, bitte, wollen Sie das tun?«
Er überlegte lange und strich mit seinen schmutzigen Fingern über seinen langen, zerzausten Bart.
»Sie sind ein einzigartiger, wertvoller Mensch, Madame Rose. In den letzten Jahren haben Sie mir immer
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