Das Haus Der Schwestern
zurücklehnen und abwarten.
Ich habe die Geschichte meines Lebens geschrieben. Vierhundert Seiten, sauber getippt. Mein Leben auf Papier. Na ja — fast mein Leben. Die letzten dreißig Jahre habe ich unerwähnt gelassen, da ist nicht mehr viel passiert, und wer interessiert sich schon für all die Malaisen, die das tägliche Leben einer alten Frau bestimmen? Nicht, daß ich überhaupt irgend jemandem die Geschichte aushändigen werde! Aber mein Alter zu beschreiben hätte mir auch selber keinen Spaß gemacht. Ehrlicherweise hätte ich das Rheuma erwähnen müssen, die nachlassende Sehkraft, die Gicht, die meine Finger allmählich zu Klauen krümmt, und dazu hatte ich keine Lust. Man soll nichts übertreiben, auch nicht die Aufrichtigkeit.
Ich bin ohnehin ehrlich genug verfahren. An keiner Stelle habe ich behauptet, besonders schön, besonders edel, besonders tapfer gewesen zu sein. Natürlich war ich einige Male sehr in Versuchung. Es wäre so leicht gewesen. Ein paar kleine Korrekturen hier und da, ein paar liebenswürdige Verschleierungen. Ich hätte so etwas wie einen verbalen Weichzeichner anlegen können, und all das, was ich klar und hart ausgesprochen habe, wäre im Verschwommenen geblieben. Hätte ich manches nicht gesagt und manches anders, schon wäre ein geschöntes Bild entstanden. Und zwangsläufig eine andere Geschichte. Natürlich kann man sich in die Tasche lügen und die eigene Geschichte umschreiben, aber dann stellt sich die Frage, warum man sie überhaupt schreibt.
Und man kann bei der Wahrheit bleiben. Die ist hart und tut manchmal weh, aber wenigstens ist es die Wahrheit. Damit bekommt die ganze Sache einen Sinn. Daran habe ich mich gehalten, auf jeder einzelnen Seite. Zwar frage ich mich, ob die Tatsache, daß ich über mich, Frances Gray, nicht in der Ich-Form, sondern in der dritten Person geschrieben habe, damit zusammenhängt, daß ich unbewußt hoffte, auf diese Weise doch ein bißchen schummeln zu können. Ein »Ich« nötigt zu weit aufrichtigeren Analysen als ein »Sie«. Aber wenn dies tatsächlich mein verstecktes, unehrenhaftes Motiv war, so kann ich sagen, ich habe mich nicht verlocken lassen, das Häßliche zu schönen. Ich bin mit der fiktiven Frances in der dritten Person gewiß gnadenlos verfahren. Das vermittelt mir ein angenehmes Gefühl von Mut und Stärke.
Ich werde meine Aufzeichnungen gut verstecken. Sosehr Laura mich liebt, würde sie doch alles sofort nach meinem Tod vernichten, solche Angst hat sie, daß jemand gewisse Dinge erfahren könnte. Sie kann nicht aus ihrer Haut heraus, aber wer kann das schon? Am sinnvollsten wäre es sicher, alles zu verbrennen, denn ob die vielen beschriebenen Seiten nun in einem Versteck vor sich hin modern oder gar nicht mehr existieren, bleibt sich am Ende gleich. Für mich hat das Schreiben seinen Zweck ohnehin erfüllt: Schreiben zwingt zur Präzision. Schemenhafte Erinnerungen nehmen klare Umrisse, deutliche Farben an. Ich war gezwungen, mich wirklich zu erinnern. Und darüber habe ich mich ausgesöhnt. Mit mir, mit meinem Leben, mit dem Schicksal. Ich habe den Menschen vergeben, und ich habe vor allem mir selbst vergeben. Das war mir ein wichtiges Anliegen, und es ist geglückt. Und dennoch...
Ich kann das alles nicht einfach den Flammen übergeben. Zuviel Arbeit, zuviel Zeit stecken darin. Ich bring’s nicht fertig. Ich ahne, daß das ein Fehler ist, aber ich habe so viele Fehler gemacht in meinem Leben, da kommt es auf einen mehr nicht an.
Inzwischen ist es völlig dunkel geworden; längst brennt meine Schreibtischlampe. Laura spielt unten zum hundertsten Mal dieselben Weihnachtslieder, während sie das Abendessen vorbereitet. Sie wird sich freuen, wenn ich seit langem wieder einmal mit gutem Appetit esse. Sie denkt ja immer sofort, sie habe schlecht gekocht, wenn jemand nicht richtig zugreift. Aber während der Monate des Schreibens war ich zu angespannt, um richtigen Hunger zu haben. Das kann sich ein Mensch wie Laura, dessen Phantasie sich in ziemlich engen Grenzen bewegt, nicht vorstellen. Irgendwann habe ich deshalb aufgehört, es ihr zu erklären. Nachher wird sie strahlen und denken, sie habe endlich wieder meinen Geschmack getroffen. Und das wird sie unendlich glücklich machen.
Laura ist fast krankhaft abhängig von der Meinung anderer Leute, und am meisten von meiner. Ich frage mich oft, wen sie mit ihrem Bitte-hab-mich-lieb-Blick verfolgen wird, wenn ich nicht mehr bin. Ich kann mir nicht vorstellen, daß
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