Das Haus Der Schwestern
an, das Zimmer zu verlassen. Die ganze Zeit über hatte sie ihren Blick gesenkt gehalten, hatte darauf geachtet, ihn keinen Moment lang umherschweifen zu lassen. Aber im Hinausgehen blieb er dennoch an der Ecke des Kaminsimses hängen, und sie sah den goldenen Rahmen der großen Photographie, die dort oben stand. Sie konnte nicht umhin, näher zu treten. Das Photo, eine Schwarzweißaufnahme, zeigte Frances Gray im Alter von siebzehn Jahren. Sie trug ein Matrosenkleid, das sehr sittsam wirkte, hatte die schwarzen Haare glatt aus dem Gesicht gestrichen. Sie war ein durch und durch keltischer Typ gewesen, mit ihrer blassen Haut und den leuchtendblauen Augen. Auf dem Bild trug sie das etwas hochmütige Lächeln zur Schau, das stets dazu angetan gewesen war, Menschen einzuschüchtern, und von dem sie sich auch in ihren schwersten Zeiten nicht getrennt hatte, als die Leute sagten, es gebe wahrhaftig nichts mehr, worauf sie sich etwas einbilden könne. In Wahrheit hatte sie nur nie eine Schwäche gezeigt. Ihre Tapferkeit hatten nur wenige ihrer Mitmenschen honoriert. Die meisten hatten gefunden, sie könne ruhig ein wenig bescheidener auftreten und sich schön im Hintergrund halten.
Frances und bescheiden! Beinahe hätte Laura aufgelacht. Sie sah das junge Mädchen auf dem Bild an und sagte laut: »Du hättest es mir sagen müssen! Du hättest mir einfach sagen müssen, wo du es versteckt hast! «
Frances lächelte und blieb stumm.
Das Flugzeug landete gegen siebzehn Uhr in London. Barbara und Ralph hatten geplant, eine Nacht hier im Hotel zu verbringen und am nächsten Morgen mit einem Mietwagen nach Yorkshire aufzubrechen. Barbara hatte überlegt, daß es nett sein könnte, am Abend durch die weihnachtlich geschmückte Stadt zu schlendern und später irgendwo gemütlich zu essen. Aber als sie aus dem Flugzeug stiegen, regnete es in Strömen, und im Laufe des Abends wurde es immer schlimmer. Nicht einmal die Regent Street mit ihren Lichtern und dem großen Tannenbaum lud unter diesen Umständen zum Verweilen ein.
Völlig durchnäßt, retteten sich Barbara und Ralph schließlich in ein Taxi, ließen sich nach Covent Garden fahren und ergatterten bei Maxwell’s den letzten freien Tisch. Es war laut und voll, aber wenigstens auch warm und trocken. Ralph strich sich die nassen Haare aus der Stirn und überflog stirnrunzelnd die Speisekarte.
»Such dir etwas richtig Gutes aus«, sagte Barbara, »die nächsten zwei Wochen bist du auf meine Küche angewiesen, und du weißt ja, was das bedeutet.«
Ralph lachte, aber er wirkte nicht fröhlich. »Auch in Yorkshire wird es Restaurants geben«, meinte er.
»So wie ich die Beschreibung des Hauses verstanden habe, befinden wir uns so ziemlich in der Mitte von Nirgendwo«, erklärte Barbara. »Es ist schon ein Dorf in der Nähe, aber ...« Sie vollendete den Satz nicht, zuckte nur mit den Schultern.
Einen Moment lang schwiegen sie beide, dann fragte Ralph leise: »Hältst du das alles wirklich für sinnvoll?«
»Du hast immer von England geschwärmt! Du hast immer gesagt, du willst einmal nach Yorkshire! Du hast ...«
»Darum geht es doch gar nicht«, unterbrach Ralph, »sondern um uns. Wie die Dinge liegen ... müssen wir uns da unbedingt zwei Wochen lang miteinander vergraben? Aufeinander hocken, konfrontiert mit allem, was...«
»Ja! Die Misere ist doch, daß wir nie Zeit füreinander haben. Daß wir uns außer ›Guten Morgen‹ und ›Guten Abend‹ kaum mehr etwas sagen. Daß wir jeder nur noch für unsere Berufe leben und gar nicht mehr wissen, was im anderen vorgeht!«
»Das wollte ich anders haben, das weißt du.«
»Ja«, sagte Barbara bitter, »das weiß ich. Auf meine Kosten.« Wieder schwiegen sie beide, dann sagte Ralph: »Wir hätten aber auch daheim miteinander reden können. Jetzt über Weihnachten.«
»Wann denn? Du weißt doch, wie verplant wir schon wieder waren! «
Er wußte es. Heiligabend bei Barbaras Eltern. Erster Feiertag bei seiner Mutter. Zweiter Feiertag bei Barbaras Bruder. Am 27. Dezember dann sein, Ralphs, vierzigster Geburtstag. Wieder Familie. Die Reise übrigens war Barbaras Geschenk zu diesem Geburtstag. Darum hatte er ja auch nicht ablehnen können. Sie hatte alles bereits geplant, organisiert, bezahlt. Mit den diversen Familienangehörigen geredet, deren Ärger besänftigt, die Lage erläutert. Nicht die Wahrheit gesagt, natürlich nicht! »Wißt ihr, Ralph und ich, wir stehen kurz vor einem Desaster, was unsere Ehe betrifft, und
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