Das Haus Der Schwestern
konnte schon ganz weit in der Ferne die großen Dampfer ausmachen, die Ferienreisende vom Festland brachten. Manchmal glich der Blick dem auf einem Gemälde, bunt und unwirklich. Zu schön, zu vollkommen, wie die Fotografie aus einem Reisekatalog.
Es war Montag, der 30. August, ein Abend voller Wärme und Sonne, und doch schon spürbar vom Nahen des Herbstes geprägt. Die Luft hatte nicht mehr die laue Weichheit des Sommers, sie war nun wie Kristall, kühler und frischer. Der Wind trug einen herben Geruch heran. Die Möwen schossen vom Meer zum Himmel hinauf und wieder zurück, wild schreiend, als wüßten sie, daß Herbststürme und Kälte bevorstanden, daß schwere Nebelfelder über der Insel liegen und das Fliegen beschwerlich machen würden. Der Sommer konnte noch zehn Tage oder zwei Wochen andauern. Dann wäre er unwiderruflich vorbei.
Die beiden Frauen sprachen wenig miteinander. Sie stellten übereinstimmend fest, daß der Salat wie immer ausgezeichnet war und daß nichts über einen schönen Sherry ging, vor allem dann, wenn er, so wie hier, großzügig in hohen Sektgläsern ausgeschenkt wurde. Ansonsten aber fand kaum ein Austausch zwischen ihnen statt. Beide schienen in ihre eigenen Gedanken vertieft.
Mae betrachtete Beatrice eindringlich, was sie sich erlauben konnte, da ihr Gegenüber offensichtlich nichts davon bemerkte. Sie fand, daß sich Beatrice für eine siebzigjährige Frau ganz und gar unangemessen kleidete, aber darüber hatte es zwischen ihnen schon zahllose Diskussionen gegeben, die nicht gefruchtet hatten. Sie lebte in ihren Jeans, bis diese zerschlissen waren, und trug dazu ausgeblichene TShirts oder unförmige Pullover, deren einziger Vorteil darin bestand, daß sie ihre Trägerin bei Wind und Wetter warm hielten. Das weiße, lockige Haar band sie meist einfach mit einem Gummiband zurück.
Mae, die gerne schmal geschnittene, helle Kostüme trug, alle vierzehn Tage zum Friseur ging und mit Make-up die Spuren des Alters zu vertuschen suchte, bemühte sich unverdrossen immer wieder, die Freundin zu einem gepflegten Äußeren zu bewegen.
»Du kannst nicht mehr herumlaufen wie ein Teenager! Wir sind beide siebzig Jahre alt und müssen diesem Umstand Rechnung tragen. Diese Jeans sind einfach zu eng, und . . . «
»Das wäre nur dann fatal, wenn ich fett wäre.«
» . . . und deine ewigen Turnschuhe sind ... «
». . . das Praktischste, was man tragen kann, wenn man den ganzen Tag auf den Beinen ist.«
»Dein Pullover ist voller Hundehaare«, sagte Mae anklagend und zugleich resigniert, denn sie wußte, weder an den Hundehaaren noch an den Turnschuhen, noch an den Jeans würde sich auch nur das geringste ändern.
Heute jedoch sagte sie gar nichts. Sie war mit Beatrice befreundet, seitdem sie beide Kinder gewesen waren, und sie verfügte inzwischen über feine Antennen, was das psychische Befinden ihrer Freundin betraf. Heute, das spürte sie, war Beatrice nicht allzugut gelaunt. Ihr gingen anscheinend unerfreuliche Gedanken durch den Kopf, und es war besser, sie nicht zusätzlich zu reizen, indem man an ihrem Aussehen herummäkelte.
Sie hat eine gute Figur, dachte Mae, das muß ihr der Neid lassen. Sie hat seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr offensichtlich kein Gramm zugenommen. Sie wußte, daß Beatrice sich so geschmeidig bewegte, als seien die körperlichen Beschwerden des Alters eine Erfindung, die für andere gemacht war, nicht aber für sie.
Mae fiel das gestohlene Schiff wieder ein, von dem der Wirt gerade gesprochen hatte. Heaven Can Wait .
Wirklich ein seltsamer Name, dachte sie.
I. Auflage
Taschenbuchausgabe Juni 2010
bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe
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Umschlagfoto: Irene Suchocki/Trevillion Images
Lektorat: Silvia Kuttny
Herstellung: sam
eISBN 9783641051914
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