Das Haus Der Schwestern
deshalb ...« Nein, Ralph konnte sich vorstellen, wie sie alles auf seine Wünsche geschoben hatte und auf ihr Verlangen, ihm diese Wünsche zu erfüllen. »Ralph hat von so etwas immer geschwärmt. Ein einsames Cottage in Nordengland. In Yorkshire, im Land der Brontës. Sein vierzigster Geburtstag ist doch ein würdiger Anlaß, findet ihr nicht? Ihr müßt das verstehen. Nächstes Jahr feiern wir wieder alle zusammen!«
Wenn es für uns beide ein nächstes Jahr noch gibt, dachte Ralph.
Ihrer beider Rollen hatten sich auf eigenartige Weise vertauscht. Barbara hatte lange Zeit nicht bemerkt, daß etwas schieflief zwischen ihnen, und jeder seiner Versuche, das Problem anzuschneiden und auszusprechen, war von ihr boykottiert worden. Entweder hatte sie keine Zeit, keine Lust, war zu müde oder überzeugt, daß es überhaupt kein Problem gab. Daß sie beide einander praktisch nur noch im Vorbeirennen sahen, schien ihr nicht aufzufallen.
Irgendwann im Laufe des vergangenen Jahres war ihr aber offenbar gedämmert, daß es einige erhebliche Schwierigkeiten gab, und nun hatte sie sich entschlossen, diese aus der Welt zu schaffen. Gewohnt, die Dinge anzupacken und Widerstände zu überwinden, hatte sie die Reise in einen abgelegenen Winkel Yorkshires gebucht, wo sie zwei Wochen lang weder von Verwandten und Freunden noch von beruflichen Verpflichtungen gestört werden würden. Irgendwie hatte sie Ralph mit all dem völlig überrollt, was überaus typisch für sie war — und was ihn ärgerte. Es kam ihm vor, als habe sie gewissermaßen einen Startschuß abgegeben. Ziel: die Rettung unserer Ehe. Zeit: zwei Wochen.
Er fühlte sich wie der Kandidat in einer Fernsehshow. »Sie haben genau sechzig Sekunden!« In den letzten Jahren, in denen er nur noch frustriert gewesen war, den Eindruck gehabt hatte, allein gelassen zu werden, war ihm die Puste ausgegangen. Vielleicht war auch einfach der Glaube daran geschwunden, daß sich etwas ändern könnte. Jetzt wollte er nicht mehr reden. Er wollte nicht um etwas bitten, was sie ihm ohnehin nicht gewähren würde.
Barbara hatte sich in die Speisekarte vertieft. Ihr leises Murmeln verriet ihre Konzentration. Barbara tat immer alles mit äußerster Konzentration. Wenn sie arbeitete, hätte eine Bombe neben ihr detonieren können, ohne daß sie auch nur aufgeblickt hätte.
Wenn sie arbeitet, dachte Ralph bitter, könnte ich neben ihr sterben, ohne daß sie es bemerken würde.
Er wußte, daß er seit einiger Zeit zu sehr zum Selbstmitleid neigte, aber er versuchte nicht ernsthaft, etwas dagegen zu unternehmen. Ab und zu tat es ihm gut, seine Psyche zu streicheln und sich zu versichern, daß er es ziemlich schlecht hatte.
Barbara blickte auf. »Hast du schon etwas gefunden?« fragte sie schließlich.
Ralph zuckte zusammen. »Oh, entschuldige. Ich war gerade völlig abwesend.«
»Hier gibt es eine Vorspeise für zwei Personen. Ich dachte, die könnten wir teilen.«
»In Ordnung.«
»Wirklich? Du mußt nicht, wenn du nicht magst. Ich finde auch etwas anderes.«
»Barbara, ich wäre durchaus in der Lage, es zu sagen, wenn ich nicht wollte«, konterte Ralph etwas heftig. »Es ist okay!«
»Deshalb brauchst du mich nicht gleich so anzufahren. Manchmal habe ich das Gefühl, du läßt mir absichtlich meinen Willen, damit du später behaupten kannst, ich hätte dich überfahren!«
»Das ist doch absurd!«
Sie starrten sich an. Es war wie immer: Ihre viel zu häufig unterdrückten Aggressionen entluden sich an einer Lappalie, drohten, eine harmlose Situation im großen Streit eskalieren zu lassen.
»Auf jeden Fall«, sagte Barbara, »werde ich nicht diese Vorspeise für zwei Personen nehmen. Ich suche mir etwas anderes.«
Sie wußte, sie benahm sich kindisch. Sie wollte sich kindisch benehmen.
»Wahrscheinlich hast du recht«, meinte Ralph, »warum sollten wir eine Vorspeise teilen, wenn wir sonst im Leben nichts teilen.«
»Welch eine tiefgründige Bemerkung! Und so geistreich! « »Wie soll ich denn sonst auf deine eigenartigen Launen reagieren? «
»Du brauchst überhaupt nicht zu reagieren. Hör mir einfach nicht zu!«
»Ich denke, wir müssen für zwei Wochen verreisen, damit ich dir zuhöre«, entgegnete Ralph kühl.
Barbara erwiderte nichts, vertiefte sich erneut in die Karte. Aber diesmal konzentrierte sie sich nicht, nahm wohl kaum etwas von dem wahr, was sie las. Ralph konnte es an ihren zornigen Augen erkennen. Ihm selber war der Appetit vergangen. Als die Bedienung
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