Das Haus Der Schwestern
Laura dann plötzlich in Freiheit und Unabhängigkeit leben wird. Sie braucht jemanden, um dessen Gunst sie buhlen, dem sie alles recht machen kann. In gewisser Weise braucht sie sogar jemanden, der Druck auf sie ausübt, sonst fühlt sie sich qualvoll verloren in dieser Welt.
Es wird sich etwas finden für sie. Es wird sich jemand finden. Irgend etwas, irgend jemand. Die Dinge werden sich entwickeln. Ich sagte es ja schon: Hier in Yorkshire weiß man nie, was kommt ...
Frances Gray
Sonntag, 22. Dezember 1996
Die Reise stand von Anfang an unter einem schlechten Stern.
Ralph war den ganzen Morgen über schon einsilbig und in sich gekehrt gewesen, aber seine Stimmung verdüsterte sich noch, als sie auf dem Flughafen an einem Zeitungskiosk vorübereilten, wo ihnen von einem der davor plazierten Drehständer Barbaras Bild von der Titelseite eines Boulevardblattes entgegensprang. Ralph blieb stehen, starrte die Zeitung an und kramte gleich darauf seine Geldbörse hervor.
»Laß doch!« rief Barbara nervös. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. »Unser Flug geht jeden Moment!«
»Soviel Zeit haben wir noch«, sagte Ralph. Er nahm eine Zeitung und schob dem Verkäufer über die Theke hinweg ein Geldstück zu. »Es scheint ein sehr gutes Foto von dir zu sein. Wir sollten es nicht ignorieren.«
Es war ein gutes Foto von Barbara. Sie trug ein schwarzes Kostüm, in dem sie sowohl sexy als auch seriös aussah, hielt den Kopf hoch erhoben und hatte den Mund leicht geöffnet. Die blonden Haare wehten hinter ihr her. Darüber in dicken roten Lettern die Worte: DIE SIEGERIN.
»Die Zeitung ist von gestern«, erklärte Barbara nach einem Blick auf das Datum. »Das Foto ist am Freitag im Gericht entstanden, nach dem Kornblum-Prozeß. Ich weiß auch nicht, warum der so viel Staub aufgewirbelt hat! «
Es hörte sich wie eine Rechtfertigung an, und das ärgerte sie. Warum sollte sie sich bei Ralph dafür entschuldigen, daß sie einen Prozeß gewonnen und daß die Presse daran regen Anteil genommen hatte? Weil Ralph es peinlich fand, wenn seine Frau Gegenstand reißerischer Artikel in der Yellow-Press war, weil spektakuläre Fälle sowieso unter seinem Niveau waren, weil er Strafverteidiger als Juristen zweiter Klasse ansah? Ralph unterschied sehr genau zwischen Rechtsanwälten und Strafverteidigern. Er war Rechtsanwalt, selbstverständlich. Er gehörte einer renommierten Frankfurter Kanzlei an und beschäftigte sich hauptsächlich mit großen Versicherungsprozessen, für die sich außer den Beteiligten kaum ein Mensch interessierte. Barbara verteidigte Schwerverbrecher und hatte dabei so viel Erfolg, daß sie immer wieder Fälle angetragen bekam, die die Öffentlichkeit monatelang in Atem hielten. Ralph verdiente mehr Geld, Barbara war das Lieblingskind der Journalisten. Jedem von ihnen war das, was den anderen auszeichnete, ein Dorn im Auge.
Als sie endlich im Flugzeug saßen — sie hatten ihr Gate in letzter Sekunde erreicht — und die Stewardessen Getränke auszuschenken begannen, fragte sich Barbara, wie so oft in den letzten Monaten, wann sich dieser ständig gereizte Ton, diese permanente Aggression in ihre Ehe eingeschlichen hatten. Es mußte schleichend passiert sein, denn sie konnte sich nicht an einen bestimmten Zeitpunkt erinnern. Sie selbst hatte sicher erste Warnzeichen übersehen. Ralph, so erinnerte sie sich, hatte schon länger von Problemen gesprochen.
Ihr Blick fiel wieder auf die Zeitung, die auf Ralphs Schoß lag. DIE SIEGERIN! Diese Art von Presse trug immer zu dick auf, aber Tatsache war: Sie hatte gesiegt. Sie hatte Peter Kornblum aus einem wirklich schlimmen Schlamassel herausgepaukt.
Kornblum war Bürgermeister einer Kleinstadt, kein hohes Tier zwar, aber zweifellos recht profilierungssüchtig, weshalb er sich bemühte, zumindest in der Lokalpresse eine beständige Rolle zu spielen. Als er plötzlich in Verdacht geriet, seine neunzehnjährige Geliebte mit einer Axt erschlagen und in Stücke gehackt zu haben, wurde er schlagartig einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Bei der Gelegenheit erfuhr auch Frau Kornblum zum ersten Mal davon, daß ihr Mann intime Beziehungen zu einem Mädchen aus dem Rotlichtmilieu unterhalten hatte, was ihre bis dahin heile Welt erheblich ins Wanken brachte. Peter Kornblum verwandelte sich in ein armes Würstchen, das um Gnade und Verständnis flehte und im übrigen inbrünstig seine Unschuld beteuerte. Wie er Barbara später erzählte, hatte er sich mit seinen engsten
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