Das Haus Der Schwestern
auch an einen Rücktransport nach Deutschland war vorläufig nicht zu denken. Neben einer schweren Gehirnerschütterung hatte er einen doppelten Schädelbasisbruch erlitten. Die Ärzte hatten gesagt, er habe äußerstes Glück gehabt. Der Sturz war schlimm gewesen, er hätte ihn leicht umbringen können.
Barbara hatte vorgehabt, über Silvester bei ihm im Krankenhaus zu bleiben; aber dann war am 31. Dezember überraschend seine Mutter, die Barbara pflichtschuldig von den Ereignissen informiert hatte, aus Deutschland eingetroffen. Sie rührte sich nicht von seinem Bett und stritt ständig mit Barbara, weil sie ihr die Schuld an der Misere gab. Ralph lag zu krank und schmerzgepeinigt im Bett, als daß er hätte eingreifen können. Schließlich zog sich Barbara zurück. Ihr und Ralph würde genug Zeit bleiben, zu reden, zu überlegen. Vorläufig konnte sie dem alten Drachen das Feld überlassen.
Fernand saß in Untersuchungshaft. Er hatte tatsächlich nichts Schlimmeres davongetragen als eine dicke Beule am Hinterkopf. Barbara war froh darüber. Sie hatte ihn nur außer Gefecht setzen, nicht ihm den Schädel einschlagen wollen, und das war ihr gelungen. Sie hegte keine Rachegefühle, obwohl er Ralph beinahe umgebracht hätte. Aus allem, was geschehen war, war in ihr eine eigenartige Bereitschaft zurückgeblieben, zu verstehen und zu verzeihen. Vielleicht deshalb, weil sie die Geschichten aller beteiligten Personen zu gut kannte.
Sie fand es schwer, einen Menschen zu verurteilen, wenn sie die Gründe für sein Handeln in irgendeiner, wenn auch noch so abstrakten Weise nachvollziehen konnte.
Sie boten ein eigenartiges Bild an diesem Morgen, diese drei Frauen in ihrer Verschiedenartigkeit, die eine Schicksalslaune an diesem Tisch zusammengebracht hatte.
Barbara sah natürlich schön und perfekt aus, sie war gut geschminkt, und ihre Haare glänzten; sie hatte sich und die Situation im Griff und war im Innersten unberührt geblieben von den Ereignissen. Das war das Bild, das sie bot, und daß es nicht stimmte, blieb ihr Geheimnis. Sie fand, daß sie durchaus das Recht hatte, ein Geheimnis zu haben.
Lilian wirkte wie eine Frau, deren Welt zusammengebrochen war, und das war in diesem Fall kein Bild, sondern die Wirklichkeit. Sie begriff immer noch nicht völlig, wie die Dinge zusammenhingen, obwohl Laura versucht hatte, ihr alles zu erklären. Sie hatte während der ganzen letzten Jahre immer älter ausgesehen, als sie war, aber nun schien sie noch stärker gealtert. Sie wußte nicht, was werden sollte. Wenn Fernand zu einer Haftstrafe verurteilt wurde — was würde dann mit ihr geschehen? Sie hatte keine Ahnung, wie Daleview zu verwalten war, sie kannte ihre Vermögensverhältnisse nicht. Da sie ihre gesamte Ehe nur damit zugebracht hatte, scheu um Fernand herumzuschleichen und seine Launen auszuloten, um sich unter Umständen noch rechtzeitig in Sicherheit bringen zu können, hatte sie das Leben als solches verlernt. Ihre Welt beschränkte sich nur auf ihren Mann, auf seinen Alkoholkonsum und auf seinen Jähzorn. Alles andere war hinter dieser ständigen akuten Bedrohung bis zur Unkenntlichkeit verblaßt. Auf einmal sah sie sich mit Erfordernissen und Dringlichkeiten konfrontiert, deren Vorhandensein sie vergessen hatte. Sie scheute davor zurück wie ein Pferd vor einem unerwartet auftauchenden, unerwartet hohen Hindernis. Vorläufig floh sie in Tränen und Panik.
Wenn sie genug geheult hat, so dachte Barbara, wird sie vielleicht erkennen, daß ihr das Schicksal eine große Chance zugespielt hat, aus der sie sich ein neues Leben zurechtzimmern kann.
Laura sah noch immer sehr angeschlagen aus; zudem hustete sie ständig und hatte heiße, trockene Augen. Der Weg von Leigh’s Dale nach Westhill hinauf durch den Schnee hatte sie sechs Stunden und alle Kraft gekostet. Sie würde viel Zeit brauchen, sich davon zu erholen. Polizei und Rettungsmannschaft, die an diesem letzten Sonntag schließlich mit Hilfe von Räumfahrzeugen auf Westhill eingetroffen waren, hatten es nicht fassen können, als sie hörten, daß die alte Frau zu Fuß bis zum Farmhaus vorgedrungen war.
»Sie können von Glück sagen, daß Sie nicht unterwegs umgefallen und erfroren sind! « hatte einer der beiden Ärzte sehr ernst zu ihr gesagt. »Das war Wahnsinn, was Sie da unternommen haben! Wie konnten Sie nur auf eine so verrückte Idee verfallen?«
Sie hatte noch immer extreme Schwierigkeiten gehabt zu sprechen, obwohl sie inzwischen einen heißen
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