Das Haus Der Schwestern
es — würdest du mich verteidigen?«
»Ich bin hier doch überhaupt nicht zugelassen«, sagte Barbara mit vor Ungeduld und Nervosität vibrierender Stimme.
Sie hatte das Gefühl, daß er Vernunftsargumenten nicht zugänglich war. Erreichte ihn überhaupt irgend etwas, das sie sagte? Er war so eigenartig. Er hatte stundenlang hier gesessen und auf sie gewartet. Warum war er nicht geflohen?
»Ich werde jetzt den Notarzt rufen«, sagte sie und nahm den Hörer ab.
Er war mit zwei Schritten neben ihr. Er umklammerte ihr Handgelenk, zwang sie, den Hörer wieder auf die Gabel zu legen.
»Nein!« sagte er scharf. »Telefoniert wird jetzt nicht, Frau Anwältin! Wir unterhalten uns gerade. Deine Eltern sind sehr nachlässig gewesen in deiner Erziehung, Barbara. Wie ich gestern schon feststellte, haben sie dir nicht beigebracht, daß man nicht in anderer Leute Angelegenheiten herumschnüffelt. Und nun muß ich sehen, daß deine Manieren auch sonst zu wünschen übriglassen. Man fängt nicht einfach an zu telefonieren, wenn sich ein anderer gerade mit einem unterhält! «
Barbara nahm den Geruch von Alkohol wahr, der ihr aus seinem Mund entgegenwehte.
»Du hast eine Menge getrunken, glaube ich«, sagte sie.
Er lachte. »Ja. Hast du noch nicht gewußt, daß ich ein Trinker bin? Ich bin sicher, irgendeines der vielen netten Klatschweiber aus der Gegend hat dich davon schon unterrichtet. Na ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Mein Vater hatte auch immer einen ganz guten Zug am Leib!«
»Woher hast du denn noch Alkohol? Es war nichts mehr da.«
»Ich habe vorgesorgt. War noch ein schöner Whisky in meinem Rucksack. Ein besonders schöner. Frances wäre sicher scharf darauf gewesen. Vom Whisky konnte sie einfach die Finger nicht lassen. Aber ich will sie nicht mit mir über einen Kamm scheren. Frances war nie besoffen. Sie hat nie mehr getrunken, als sie vertragen konnte. Frances hatte Selbstbeherrschung. Wie du. Auch so eine Unterkühlte, weißt du. Allerdings frage ich mich manchmal . . .«
Er ließ ihr Handgelenk los, betrachtete sie aber lauernd. Barbara wußte, es hatte keinen Sinn, ein zweites Mal nach dem Hörer zu greifen.
»Ja, manchmal frage ich mich, ob sie im Bett meines Vaters auch so ausflippte wie du in meinem! Wäre doch interessant zu wissen, oder? Schreibt sie etwas davon in ihrem Buch? Du hast es doch gelesen.«
»Ich erinnere mich nicht. Fernand, ich . . .«
»Das Thema behagt dir nicht, was? Kann ich mir denken. Da liegt dein schwerverletzter Mann nebenan, und vielleicht stirbt er; und du mußt dann damit fertig werden, daß du ihn in der letzten Nacht seines Lebens betrogen hast. Nein, ich verstehe schon. Ich möchte auch nicht in deiner Haut stecken! «
Sie erwiderte nichts. Er war zu betrunken, als daß sie an seine Einsicht hätte appellieren können. Und gleichzeitig war er nicht betrunken genug, als daß er zu einem leicht zu überwältigenden Gegner geworden wäre.
Aber er ist kein Killer, dachte sie, er hatte Stunden Zeit, uns beide zum Schweigen zu bringen, wenn er es gewollt hätte. Er weiß nicht weiter. Er sitzt in der Patsche und hat keine Ahnung, was geschehen soll. Das Schlimme ist nur — er läßt Ralph verrecken! Das kann er. Ihn dort liegenlassen, ihn ignorieren, bis er tot ist.
»Ich habe hier gesessen und gewartet und zugesehen, wie die Dämmerung langsam hereinbrach«, sagte er, »so wie ich früher oft hier gesessen habe. Ich erwähnte ja bereits, daß ich gern nach Westhill kam, oder? Wir saßen häufig hier zusammen: Frances, Laura und ich. Frances erzählte dann aus ihrem Leben. Nicht so, wie alte Leute das oft tun, langweilig und verstaubt und so, daß man nur noch aus Höflichkeit zuhört. Sie war witzig und geistreich, sie hatte Sinn für eine gute Pointe. Und sie verfügte über ein unglaubliches Talent zur Selbstironie. Manchmal hörte ich ihr richtig atemlos zu. Sie hat eine Menge erlebt, in den Jahren der Frauenbewegung vor allem und während des Ersten Weltkriegs. Für mich war das eine andere Welt, eine, die ich nicht kannte. Ich war fasziniert. Von den Geschichten — und von dieser Frau.«
»Ich kann dich verstehen«, sagte Barbara, »wirklich. Aber, Fernand, ich muß jetzt unbedingt...«
»Sie hat mich als Frau natürlich nicht im erotischen Sinne angezogen«, fuhr er fort. »Dazu war sie zu alt. Sie war siebzig, als ich zwanzig war. Aber Erotik ist nicht die einzige Verbindung zwischen Mann und Frau. Vielleicht habe ich für Frances mehr empfunden
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